Von Anika Züchner
Mit den im September 2015 durch die UNO verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) hat sich der globale Referenzrahmen für die Entwicklungspolitik weltweit verändert. 2016 wird das Schweizer Parlament die neue entwicklungspolitische Strategie des Bundesrates für die Jahre 2017-2020 beraten. Das Symposium des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz (MMS) hat dies Ende Oktober 2015 zum Anlass genommen, um die Bedeutung der Gesundheit in der Schweizer Aussenpolitik und der internationalen Zusammenarbeit zu diskutieren.
Das diesjährige Symposium des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz fand am 28. Oktober 2015 zum Thema „Geforderte Schweiz: Gesundheit für alle in einer sich verändernden Welt“ statt. Experten aus Europa und Afrika versammelten sich in Basel. Der Anlass hatte das Ziel einen Austausch über die neuen nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) zu führen, die gerade von der UNO verabschiedet worden waren: Was bedeuten die SDGs für die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit? Welche Veränderungen bringen die SDGs und welchen Einfluss hat das auf die tägliche Arbeit von Schweizer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ?
Botschafter Thomas Greminger, Vize-Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zeichnete ein Bild von unserer Welt, die sich so schnell verändert wie noch nie. Durch die Millennium Development Goals (MDGs) konnten in den letzten Jahren grosse Erfolge in der Entwicklungspolitik verzeichnet werden, aber viele Länder und Bevölkerungsgruppen werden immer noch vernachlässigt oder vergessen. Vor allem das 3. der 17 SDG Ziele, mit der Prämisse „Gesundheit für alle“, steht für die hier anwesenden NGOs im Vordergrund. Zweifellos sind aber auch viele der weiteren 17 Ziele essentiell wichtig, um Gesundheit für alle zu verwirklichen. Die SDGs machten es möglich, über den Tellerrand des eigenen Bereichs hinaus zu denken und zu handeln. Eine einzelne Zielerreichung sei nur mit der Verwirklichung aller Ziele möglich, da sämtliche Themengebiete sich gegenseitig bedingen und beeinflussen.
Greminger ging auf die neue Botschaft ein, die bundesrätliche Strategie zur internationalen Zusammenarbeit für die Jahr 2017 bis 2020. Im Gesundheitsbereich stehen vor allem drei Punkte im Fokus:
Insgesamt konzentriert sich die DEZA verstärkt auf die Arbeit in fragilen Staaten und 55% der Gelder sollen in Subsahara Afrika investiert werden, wo die Not am grössten ist.
Botschafter Greminger beendete seinen Vortrag mit den Worten, dass die SDGs einen ehrgeizigen Rahmen für die kommenden Jahre bieten, aber aufgrund der bisherigen erfolgreichen Schweizer Entwicklungszusammenarbeit, blickt er positiv in die Zukunft.
Martin Leschhorn Strebel, Geschäftsführer von Medicus Mundi Schweiz, thematisierte in seinem Vortrag ebenfalls die neue Schweizer Botschaft, die er als „Übergangsbotschaft“ bezeichnete, ohne dies negativ zu konnotieren. Leschhorn Strebel ging insbesondere auf die aktuelle Lage in der europäischen Flüchtlingskrise ein. Er kritisierte vor allem, dass Gelder der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) aktuell in der Schweiz und ganz Europa vermehrt für die Humanitäre Hilfe eingesetzt werden. Diese Gelder fehlen schliesslich in der EZA und damit in den Partnerländern vor Ort. Dies sei kurzsichtig, da damit Problemen nicht vorgebeugt werden könne. Gleichzeitig werde die Gesundheit in der Humanitären Hilfe zu wenig berücksichtigt.
Bezüglich der neuen SDGs zog Leschhorn Strebel ebenfalls die Schlussfolgerung, dass der umfassende Ansatz der 17 Ziele aus Sicht der globalen Gesundheit sehr zu begrüssen sei. Er verwies aber auch auf die eher negative mediale Berichterstattung über die neuen Nachhaltigkeitsziele und fordert die DEZA auf, besser der Öffentlichkeit zu kommunizieren, dass die aktuelle internationale EZA im Bereich Gesundheit gut funktioniere.
Im zweiten Themenblock stellte Eugenio Raul Villar Montesinos von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwei Ansichten von Gesundheit gegenüber, die sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten. Die eine Sichtweise versteht Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit, wohingegen die andere Gesundheit in einem grösseren Kontext stellt und soziale und wirtschaftliche Faktoren einbezieht.
Diese beiden Meinungen wurden im Laufe der Jahrzehnte mal mehr mal weniger hervorgehoben – jedoch meist gegeneinander ausgespielt. Heute sieht man in beiden Aussagen ein Stück Wahrheit und ist der Auffassung, dass Gesundheit mit beiden Definitionen erklärt werden muss. Für die Zukunft sieht Villar die Gerechtigkeit als entscheidenden Faktor im Gesundheitsbereich.
Villar betont, dass die 17 Punkte der nachhaltigen Entwicklungsziele als Ganzes gesehen und in einer multilateralen Perspektive verstanden werden müssten. Nur mit diesem ganzheitlichen Verständnis können die aktuellen Probleme gelöst werden. Dabei sei nicht nur die reine Anwesenheit der SDGs entscheidend für die Zukunft, sondern viel mehr ihre Umsetzbarkeit und die Messbarkeit der Erfolge.
Thomas Schwarz, Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi International, beschrieb in seinem Vortrag ausführlich den Prozess der letzten Jahre in Vorbereitung auf die neue UNO Agenda 2030.
Schwarz schilderte das grundsätzliche Problem der Advocacy Arbeit auf dem Parkett der globalen Gesundheit: Die AkteurInnen teilten sich in diejenigen auf die sich für Krankheitsbekämpfung, für den Zugang zu Gesundheitssystemen und für die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen auf. Innerhalb dieser Bereiche würden jeweils unterschiedliche Sprachen gesprochen, welche die Kommunikation untereinander erschweren. Ein Dialog zwischen den einzelnen Interessensvertretern finde kaum statt, wodurch das gemeinsame Ziel in der Gesundheit aus dem Blickfeld verschwindet.
Medienberichte von der UNO Vollversammlung im September in New York zeigen, was der Weltöffentlichkeit vermittelt werden sollte: viel Show und Pathos um die grosse neue Errungenschaft – die SDGs. Schwarz fasst die SDGs kurz mit folgenden Stichworten zusammen: grossartige Vision, universelle Agenda, holistischer Ansatz und Handlungsaufforderung für jede Regierung. Kritisch sieht der Redner allerdings das Fehlen der Ganzheitlichkeit in den Zielen. Für Ganzheitlichkeit und eine gewisse Radikalität gibt es laut Schwarz leider keine Lobby. Schwarz kritisiert weiter: Die SDGs sind schwammig, nicht verbindlich, ungenau, sie lassen den Ländern zu viele Freiheiten und weisen einen Haufen Baustellen und Sackgassen auf.
Trotz der enttäuschten Hoffnung auf eine verbindliche Welt-Agenda, fordert Schwarz seine Zuhörer auf, den SDGs eine Chance zu geben. Er schliesst seine Rede mit den Worten „Kühlen Kopf bewahren, Verblendung widerstehen, Rechenschaft fordern“!
Unter der Leitung von Moderator Thomas Gass (SRK) fand im Folgenden eine Podiumsdiskussion mit Botschafter Thomas Greminger (DEZA), Thomas Schwarz (MMI) und Verena Wieland vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) statt.
Botschafter Greminger bestätigte zu Beginn der Diskussion, dass die neue Schweizer Botschaft 2017 - 2020 tatsächlich nicht viel Neues enthalte. Greminger sieht dies aber nicht als negativ – vielmehr möchte er auf Kontinuität setzen. Er stimmte Leschhorn Strebel in dessen Kritik am kurzsichtigen Handeln der Schweiz zu: Gelder für die Humanitäre Hilfe dürfen nicht von den sonstigen Geldern für Entwicklungshilfe abgezweigt werden und Gesundheit muss in der aktuellen Humanitären Hilfe thematisiert werden. Greminger betonte, dass er dieses Thema gerne nach dem Symposium in Zusammenarbeit mit Medicus Mundi Schweiz vertiefen würde.
Wo beinhalten die SDGs Chancen für die NGOs? Thomas Gass richtet die Frage an Verena Wieland. Wieland sieht die SDGs als normatives Rahmenwerk, in dem man sich als NGO bewegen könne. Sie prognostizierte allerdings eine unterschiedlich intensive Arbeit mit den SDGs, da der politische Wille weltweit doch sehr verschieden sei. Wieland betonte, dass die SDGs erstmals nicht nur für Entwicklungsländer, sondern für alle Länder Gültigkeit haben und alle Länder gleichermassen zur Verantwortung gezogen werden. Deshalb sei es wichtig, diese Ziele auch in der Schweiz publik zu machen. Moderator Thomas Gass hakte nach und fragte, wie mehr Akzeptanz in der Bevölkerung für die SDGs erreicht werden könne. Laut Wieland sei dies am besten durch die gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit vieler, wie z. B. durch das Netzwerk Medicus Mundi zu erreichen.
Greminger warf ein, dass die Verabschiedung der Millenniums Entwicklungsziele, gar keine mediale Berichterstattung zur Folge hatten – die SDGs machten wenigsten negative Schlagzeilen.
Thomas Schwarz betonte, dass die SDGs nicht nur für Entwicklungspolitiker von Relevanz sind sondern vielmehr ein Referenzrahmen für die gesamte Schweizer Politik darstellen sollten. Schwarz präzisierte seine Aussage und stellte die SDGs als mögliche Leitlinien für eine bisher nicht existierende gemeinsame Weltinnenpolitik in Aussicht.
Das Nachmittagsprogramm wurde durch Glenn Laverack von der WHO mit einem Beispiel aus dem globalen Norden eröffnet. Laverack ging in seinem Vortrag auf das „Parallel Tracking“ als optimiertes Planungstool ein, welches in über neunzig Public Health Projekten eingesetzt wurde.
Das Parallel Tracking verbindet dabei die positiven Aspekte aus Top-Down- und Bottom-Up-Programmen bzw. integriert, zur Unterstützung der Gesundheitsförderer, die Ziele des gemeindebezogenen Empowerments systematisch in Top-Down-Gesundheitsprogramme. Immer wieder wird in Top-Down Programme investiert, da die Experten sich erhoffen, so die Gewohnheiten der Menschen zu verändern. Diese Programme sind allerdings nachweislich nicht erfolgreich, da sie die Menschen mit ihren Problemen und Bedürfnissen nicht erreichen. Viel wichtiger sei laut Laverack, die Zusammenarbeit mit Gemeinden und Gemeinschaften, um so alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Häufig ist es auch sinnvoll, gemeinsam mit den Menschen die Programme aufzubauen, um so zielgerichtet auf spezielle Bedürfnisse eingehen zu können Laverack nannte dazu erfolgreiche Programmbeispiele aus Schweden, Kanada und Neuseeland.
Die Referentin Nonjabulo Mahlangu arbeitet in Simbabwe für die Community Working Group on Health (CWGH). Sie gab einen Einblick in die tägliche Arbeit vor Ort in einem Land, in das viele Entwicklungsbemühungen und -gelder fliessen. Die Community Working Group bringt in Simbabwe viele verschiedene Menschen zusammen und ist nach dem Bottom-Up-Prinzip organisiert. Die tägliche Arbeit besteht zum Beispiel darin „Village Health Workers“ auszubilden, damit den Menschen vor Ort mehr Gesundheitspersonal zur Verfügung steht. Mahlangu ist es ein grosses Anliegen, die Regierung auf die Probleme der Communities aufmerksam zu machen und über die einmal jährlich in einer Konferenz stattfindenden Diskussion hinaus, den Dialog zwischen beiden Seiten zu verstärken.
Um die Nachhaltigkeit eines Programmes zu fördern, ist es für Mahlangu essentiell, dass die lokale Bevölkerung in die Planung und Umsetzung der Projekte eingebunden und existierende Strukturen genutzt werden.
Bislang haben die SDGs wie auch zuvor schon die MDGs vor Ort wenig Einfluss, wie manch ein Entwicklungshelfer enttäuscht feststellen muss. Dies führt Mahlangu auf Differenzen und unterschiedliche Sichtweisen zwischen der lokalen Bevölkerung und den NGOs vor Ort und auf die grundsätzliche Kluft zu den globalen Akteuren zurück.
Das Symposium hat die nachhaltigen Entwicklungsziele kritisch hinterfragt und in den entwicklungspolitischen Kontext der Schweiz eingebettet. Trotz immenser Herausforderungen bleibt die Hoffnung, dass die neuen Ziele weitgehend erreicht werden können. Die Schweiz wird in diesem Prozess weiterhin eine wichtige Rolle spielen, die sie bereits in den Verhandlungen um die SDGs beweisen konnte.