Von Christine Büsser und Tanja Zangger
Sonagachi - der Name des Quartiers ist eine äusserst freundliche Beschreibung für den viertel Quadratkilometer im Norden Calcuttas, auf dem rund 25'000 Menschen leben. Etwa 4'000 von ihnen sind "Commercial Sex Workers", das heisst Prostituierte. Diese Tatsache motivierte das Calcutta Project Basel und seine indische Partnerorganisation SBDCH, die in unmittelbarer Nähe zum Quartier eine "Outpatient Clinic" betreibt, auch in Sonagachi aktiv zu werden. Ausschlaggebend für die Pläne eines Programmes innerhalb des Prostituiertenviertels war der traurige Umstand, dass aufgrund ihrer sozialen Ausgrenzung kaum Prostiutierte in die Klinik kamen.
Gemäss einer quantitativ erhobenen Studie, die 1994 im Sonagachi durchgeführt wurde, ist der grösste Teil der sich dort prostituierenden Frauen zwischen 15 und 29 Jahren alt. Leider ist dort aber auch die Kinderprostitution keine Seltenheit. Die Frauen im Sonagachi stammen aus dem an Bangladesch grenzenden Teil von Westbengalen, aus Bangladesch selbst und aus Nepal. Extreme Armut, schwierige Familienverhältnisse und ‚misguidance‘ (Täuschung) sind die am häufigsten genannten Gründe für die Prostitution. Ein verschwindend kleiner Teil der Frauen entschied sich freiwillig für dieses Gewerbe, wobei in der Studie nicht definiert wurde, was genau unter Freiwilligkeit verstanden wird. Der weitverbreitete Analphabetismus erschwert es den Frauen, eine andere Erwerbstätigkeit zu finden.
Knapp 70 Prozent der befragten Frauen waren bis zum Zeitpunkt der Untersuchung mindestens einmal schwanger gewesen, wobei es aber auch Frauen darunter hatte, die mehr als sieben Mal schwanger gewesen waren. Gut 70 Prozent der Frauen haben mindestens einmal eine Abtreibung vorgenommen. Die Geschlechtskrankheiten stellen ein grosses Problem dar. Es gibt kaum eine Frau, die noch nie darunter gelitten hat, und viele hatten sogar mehr als eine Geschlechtskrankheit. Neben der Gonorrhoe ist vor allem Syphilis sehr verbreitet.
Über die Verbreitung HIV-Virus gibt es verlässliche Angaben. Eine vermutlich sehr hohe Durchseuchung kann nur erahnt werden. Neben dem schlechten Gesundheitszustand befinden sich die Frauen häufig auch in einer desolaten psychischen Verfassung. Ausdruck dessen ist der hohe Konsum von Alkohol, Zigaretten und Kautabak.
Während einer zweijährigen Vorbereitungszeit wurden von den Programmverantwortlichen des SBDCH Abklärungen hinsichtlich der bevorstehenden Arbeit im Sonagachi-Quartier getroffen sowie erste Kontakte geknüpft. Da sich bereits eine andere Nichtregierungsorganisation in Sonagachi auf Präventionsarbeit in Bezug auf Aids konzentrierte, war es von Anfang an wichtig, nicht als "Konkurrenz" aufzutreten. Die Hauptziele unseres Programmes sollten demnach die Verbesserung des Gesundheitszustandes und die Förderung des Gesundheitsbewusstseins der Prostituierten sein.
Ein relativ grosses Problem stellte auch die Suche nach einer geeigneten Lokalität im dicht besiedelten Quartier dar. Erst als sich ein lokaler Club bereit erklärte, uns in seinem Haus einzelne Räume zu vermieten, war ein weiterer Grundstein für das neue Programm gelegt.
Das Programm "Public Health in a Prostitute Area" (PHPA) begann im Februar 1998. Seither bietet das aus Ärzt/innen, Sozial- und Gesundheitsarbeiterinnen bestehende Team dreimal pro Woche im Quartier Gesundheitsberatung und homöopathische Behandlung an. Obwohl die Zielgruppe des Programmes die Prostituierten sind, werden andere Quartierbewohner/innen nicht ausgeschlossen.
Gerade am Anfang war es schwierig, den Zugang zu den Sex Workers zu finden und deren Vertrauen zu gewinnen. Durch die unermüdlichen Einsatz der Sozialarbeiterinnen und durch "Mund-zu-Mund-Propaganda" konnten Hemmschwellen und Kommunikationsprobleme jedoch abgebaut werden. Seither hat sich das Programm kontinuierlich entwickelt. Inzwischen finden neben den Sprechstunden auch Gruppendiskussionen mit bis zu 30 Personen statt, in denen unter der Leitung eines Arztes oder einer Ärztin des Programmes Themen aus dem Gesundheitsbereich wie etwa Ernährung oder Hygiene behandelt werden. Diese "group discussions" sind bei den Frauen sehr beliebt, nicht zuletzt deswegen, weil sie sich so auch untereinander austauschen können. Die Sozial- und Gesundheitsarbeiterinnen ihrerseits nutzen jede Gelegenheit, während den Sprechstunden den wartenden Sex Workers praktische Tipps zu geben oder mit ihnen über ihre Probleme zu diskutieren. Die beiden Sozialarbeiterinnen führen Hausbesuche durch und können die Sex Workers somit auch in ihrem direkten Umfeld erreichen. Besondere Anlässe, wie etwa der Weltaidstag, werden dazu genutzt, die Prostituierten, aber auch die anderen Einwohner/innen des Quartiers auf das Programm aufmerksam zu machen.
Schon bald nach der Inbetriebnahme des Programmes wurde dem PHPA-Team die beklemmende Situation der in dem Viertel lebenden Kinder bewusst. Sie wachsen in einem Milieu auf, aus dem sie zeitlebens wohl kaum herauskommen werden. Hinzu kommt noch, dass die Kinder während den Arbeitszeiten ihrer Mütter, also hauptsächlich nachts, oft ohne Betreuung auf sich selbst gestellt sind, falls nicht eine "mashi" (vergleichbar mit einer Bordellvorsteherin im westlichen Sinn) die Aufsicht übernimmt. Diese Situation ist auch für die Frauen selbst sehr belastend.
Diese traurige Lage hat uns dazu veranlasst, über den Aufbau eines Kinderhortes nachzudenken, und während des letzten Jahres sind konkrete Pläne herangereift. Die Prostituierten wurden in den Planungsprozess miteinbezogen, durch Befragungen, u. a. auch mit einem von der leitende Ärztin des Programmes, ausgearbeiteten Fragebogen. Viele Sex Workers wären froh, ihre Kinder während der Arbeitszeiten an einem "sicheren Ort" zu wissen.
Den Frauen soll keineswegs die Verantwortung für ihre Kinder abgenommen werden, vielmehr möchten wir sie in ihren ohnehin schon schwierigen Lebensumständen entlasten und gleichzeitig den Kindern eine Möglichkeit geben, sich in ihrer Situation zurechtzufinden sowie ihr psychisches und physisches Befinden zu verbessern. Die Sex Workers sollen in den Aufbau und Betrieb des Kinderhortes miteinbezogen werden, vor allem um sie dann auch in mögliche Lernveranstaltungen und –aktivitäten einzubinden.
Zur Zeit suchen wir noch geeignete Räumlichkeiten im Quartier – wie immer das Hauptproblem im dicht besiedelten Calcutta, wo Häuser und Wohnungen und besonders Bauland grosse Mangelware sind. Bis also genügend Kontakte geknüpft und Beziehungen ausgespielt sind und bis eine Lokalität in Aussicht steht, bleibt noch Zeit für die Ausarbeitung des Konzeptes, das in der Rohfassung bereits steht. Eine weitere Vision für den Kinderhort ist es, den Kindern Schulunterricht oder zumindest eine Ergänzung zum regulären Schulunterricht anzubieten. Ab 3 Jahren gehen die Kinder – auch im Sonagachi-Quartier – zur Schule. Wie effizient diese Schulen sind, und wie viele Kinder tatsächlich den Unterricht besuchen, ist aber vollkommen unbekannt.
Wir wollen das Vorhaben langsam und mit den lokalen Partnerinnen und Partnern beginnen, es soll sich bewähren und etablieren – denn nur so kann Schritt für Schritt ein bisschen Elend nachhaltig verringert werden.
*Christine Büsser und Tanja Zangger, Calcutta Project (CP) Basel. Das Calcutta Project wurde 1990 von Basler Studierenden ins Leben gerufen mit der Grundidee, in einer Welt, die von sozialer Ungerechtigkeit geprägt ist, einen persönlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter Menschen zu leisten. So ist ein interdisziplinäres Zusammenarbeitsprojekt entstanden, das seit rund zehn Jahren funktioniert, expandiert und inspiriert. Für die Durchführung der verschiedenen Präventionsprogramme und für den Betrieb des Ambulatoriums (Out Patient Clinic) in Nordcalcutta ist unser Partnerverein S.B.Devi Charity Home (SBDCH) zuständig.