Von Vreni Frauenfelder
Seit über zwanzig Jahren ist Afghanistan in einem Strudel von Krieg und Gewalt gefangen, der inzwischen auch die wenigen Überreste eines funktionierenden Staatswesens zerstört hat. In der von archaischer Männerherrlichkeit und pervertiertem Islamismus geprägten Kriegergesellschaft Afghanistans werden die Rechte der Frauen mit Füssen getreten. In dieser scheinbar hoffnungslosen Situation engagieren sich Frauen für ihr Recht auf Gesundheit und Bildung.
red. Afghanistan, ein Land im Dauerkrieg: Auf den dreizehnjährigen erbitterten Kampf afghanischer Mujahedin-Krieger gegen ein von sowjetischen Invasionstruppen installiertes Regime folgten seit 1992 ebenso gnadenlose Machtkämpfe zwischen den einst notdürftig verbündeten Kriegsherren. Der Kampf um die politische und gesellschaftliche Vorherrschaft in Afghanistan wurde auch nach dem Einmarsch der Taliban-Islamschüler in Kabul in anderer Konstellation fortgesetzt. Das Land bleibt in Einflusszonen gespalten; ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen ist nicht abzusehen.
Mit dem Beginn der Taliban-Herrschaft in Kabul und mit ihrer zum Teil grotesken pseudoislamistischen Gesetzgebung hat ein Problem internationale Beachtung gefunden, das in der afghanischen Gesellschaft bereits zuvor bestanden hatte: der Konflikt zwischen archaischen Rollenmustern und dem Wunsch afghanischer Frauen nach Selbstbestimmung und gleichem Zugang zu Ausbildung und Arbeit, öffentlichem Leben und staatlichen Leistungen.
Der Protest einer internationalen Koalition von Menschenrechts- und Frauenorganisationen gegen die Taliban-Gesetze ist berechtigt und nötig. Es gibt daneben aber auch einen weniger spektakulären Kampf afghanischer Frauen gegen die Hoffnungslosigkeit. Er wird nicht zuletzt von Frauen geführt, die zur Zeit der sowjetischen Besetzung des Landes in Kabul oder im pakistanischen Exil gelebt haben und dort studierten oder einen Beruf erlernten. Diese Frauen wollen nicht so recht ins Klischee der verschleierten, entrechteten und in ihr Haus verbannten Afghaninnen passen – und sie tun ihr Möglichstes, damit sie das Klischee nicht einholt...
Die Ärztin Sima Samar: Im Südwesten Afghanistan aufgewachsen, wollte sie im Alter von 18 Jahren in Kabul ein Medizinstudium beginnen. Als alleinstehende Frau liess sie ihr Vater aber nicht alleine in die Hauptstadt ziehen, und so musste sie sich mit einem späteren Universitätsdozenten verloben. Da ihr Mann den Brautpreis nicht bezahlen konnte, kam es nicht zur Heirat, weshalb Sima Samar – in den Augen ihres Vaters weiterhin "unverheiratete Frau" - ein Stipendium für ein Weiterstudium in Australien nicht annehmen durfte. Sie gebar einen Sohn und schloss ihr Medizinstudium in Kabul ab. Nach Ausbruch des Krieges und nach der Verhaftung ihres Mannes im Jahr 1984 flüchtete Sima Samar mit ihrem Sohn in die pakistanische Stadt Quetta, neben Peshavar eine der beiden Hauptstädte des afghanischen Exils. Nach einigen Jahren Tätigkeit am städtischen Krankenhaus entschloss sie sich im Jahr 1987, eine Klinik für Frauen aufzubauen, da es im städtischen Spital keine Frauenabteilung gab und auch die in Quetta vertretenen Hilfswerke keine Möglichkeit sehen wollten, eine solche Abteilung am Spital zu eröffnen: "Die Klinik entsprach einem grossen Bedürfnis, denn die Frauen wurden in der medizinischen Betreuung und Versorgung stark vernachlässigt. Sowohl die Führer der Konfliktparteien als auch die tonangebenden Mullahs im Exil interessierten sich in keiner Weise dafür", so die Ärztin anlässlich eines Besuches in der Schweiz.
Die Ärztin nennt die gesellschaftlichen Hintergründe, die zu dieser Vernachlässigung der Frauengesundheit führten, beim Namen: In der von feudalen Strukturen, Armut und Gewalt geprägten Kultur Afghanistans wurde der Islam als Instrument gegen jegliche Entwicklung eingesetzt. Hauptopfer der unheilvollen Verbindung von Patriarchat und Islamismus waren die Frauen, die trotz ihrer aktiven Beteiligung am Familienunterhalt entrechtet und zum Besitz der Männer reduziert wurden. Im Gesundheitsbereich hatte dies besonders fatale Konsequenzen: Vor allem in Gegenden mit schwacher Gesundheitsversorgung waren die Männer gegenüber dem medizinischen Personal und den Behandlungsmethoden zum vornherein misstrauisch eingestellt. Dieses Misstrauen wurde durch die religiösen Führer verstärkt. Während aber die Männer von ihrer Bewegungsfreiheit profitierten und Zugang zu der verfügbaren Behandlung hatten, blieb für die ans Haus gebundenen Frauen nur ein Mix aus traditioneller und Geisterheilung übrig: Heilpraktiken, die von den Müttern über Generationen an ihre Töchter weitergegeben wurden, sowie Besuche bei lokalen Heiligtümern. So erstaunt nicht, dass die Frauen ernsthafte Krankheiten in der Regel nicht überlebten.
Die schwachen Hoffnungen, dass die starren sozialen Rahmenbedingungen im Gefolge Krieges und der damit verbunden Bevölkerungsbewegungen aufbrechen könnten, haben sich, so Sima Samar, jedoch nicht erfüllt. Auch wurde die Chance, die sich mit der massiven Lieferung von Hilfsgütern nach Afghanistan und in die Flüchtlingslager durch internationale Organisationen ergeben hatte, nicht genutzt. Die meisten Güter wurden für die Kriegsführung umgeleitet, nur wenig Mittel flossen in soziale Programme. Aus Angst vor nachteiligen Folgen für ihre Arbeit waren auch nur wenige Hilfswerke bereit, in die Bildung oder in den Einbezug der Frauen in die Entwicklung zu investieren. Und als nach Abzug der russischen Truppen das internationale Interesse an Afghanistan schlagartig abnahm, versteinerte das soziale Gefüge wieder vollständig.
Die Frauenklinik in Quetta hingegen florierte, und die von Sima Samar 1989 gegründete Organisation Shuhada hat sich in den letzten fünfzehn Jahren mit internationaler Unterstützung stark entwickelt. Shuhada betreut inzwischen neben der Klinik in Quetta ein 50-Betten-Krankenhaus in Jaghori im südlichen Teil Afghanistans, kleinere Spitäler in Behsood und Yakawlang sowie Kliniken in Kabul und in zwei Dörfern der Provinz Ghore. Zur Organisation gehören ausserdem Schulen in Quetta und in verschiedenen Landesteilen Afghanistans. Neben der medizinischen Hilfe und Versorgung von Frauen und Mädchen bildet denn auch die Ausbildung eine weitere Schwerpunkttätigkeit der Organisation: In insgesamt 49 von der Organisation betreuten Schulen besuchten im Jahr 1999 17'000 Kinder den Unterricht. "Ohne Ausbildung junger Menschen kann Afghanistan nicht wieder aufgebaut werden, und ohne Schulung wird es schwierig sein, die Gewalt in Afghanistan zu vermindern", so Sima Samar. Unter der Taliban-Verwaltung wurden verschiedene Mädchenschulen geschlossen, doch nach langen Verhandlungen konnten Shuhada und Gemeindevertreter/innen erreichen, dass die Schulen für Mädchen bis zur 6. Klasse wieder geöffnet wurden. Als Konsequenz des Kompromisses werden nun die Mädchen ab 7. Schuljahr in Privathäusern unterrichtet.
In der Ausbildung von medizinischem Personal fliessen die beiden Schwerpunktbereiche von Shuhada sinnvoll zusammen. Die Programme umfassten in den letzten Jahren die Ausbildung von Krankenschwestern an den Spitälern von Jaghori und Behsood sowie in der Klinik von Quetta, die Ausbildung von Community Health Workers in Yakawlang und von Hebammen in Malisztan und Waras.
*Quellen: von Dr. Sima Samar freundlicherweise zur Verfügung gestellte Zeitungsartikel und Berichte. Kontakt: Shuhada Clinic, Alamdar Rd. Nasir Abad, Quetta, Pakistan, www.shuhada.org, simas@brain.net.pk. Kontakt in der Schweiz: Afghanistan-Hilfe Schaffhausen, Vreni Frauenfelder, Tel. +41 52 672 23 85