Von Dr. Jean Martin
Wir leben in einer Zeit, in der sich in vielen Ländern autoritäre Tendenzen zeigen, bei denen grobe Vereinfachungen an der Tagesordnung sind. Besteht das Risiko, dass diese Entwicklung auf die eigentlich so demokratische Schweiz übergreift? Einige Vorkommnisse aus jüngster Zeit geben Anlass, dies zu befürchten.
Die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie hat in den politischen Lagern, welche die vom Bundesrat eingeführten Beschränkungen für überzogen halten, Reaktionen hervorgerufen. In diesem Zusammenhang debattierte das Parlament darüber, den Mitgliedern der CovidTask-Force öffentliche Äusserungen zu untersagen. Dass für dieses Gremium als solches gewisse Regeln aufgestellt werden, ist nachvollziehbar. Aber den darin vertretenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das Recht zu verweigern, ihre persönliche Meinung über die Situation zu äussern, sollte in einer Gesellschaft, die behauptet, sich auf objektive Fakten zu stützen, unvorstellbar sein. Allerdings wissen wir ja bereits seit Antigone, dass die Überbringerinnen und Überbringer schlechter Nachrichten nicht geschätzt werden.
Natürlich dürfen Informationen, die von Personen stammen, denen man einen gewissen Kompetenzvorschuss einräumt, nicht durch unwissenschaftliche, persönliche oder andere Interessen verzerrt sein. Zudem steht es Fachleuten (etwa Ärztinnen und Ärzten) gut an, eigenes Nichtwissen zuzugeben. Auch wenn die Öffentlichkeit überrascht sein mag. Die eigenen Grenzen zu kennen und anzusprechen ist für die Integrität der «Gelehrten» unabdingbar. Von diesen Personen wird zudem erwartet, zu gewichten, sich an die Fakten zu halten und auf Übertreibungen oder unangemessenen Alarmismus zu verzichten. Kurz: Man darf ein gewisses Berufsethos erwarten, das der ihnen zugestandenen Glaubwürdigkeit entspricht.
Die – knappe – Annahme der Konzernverantwortungsinitiative (die mangels einer Mehrheit der Kantone nicht in Kraft treten wird) hat gezeigt, welches Potenzial in der Mobilisierung der Zivilgesellschaft steckt. Die Aufregung, die dies in Wirtschaftskreisen auslöste, führte zu Interventionen beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, das beschloss, einen Teil der Informationsarbeit von Nichtregierungsorganisationen im Inland nicht länger zu subventionieren – mit der Begründung, sie mischten sich ungebührlich in die Politik ein.
Aber Politik meint nun einmal das Leben der Stadt, der Polis. Hilfsorganisationen halten bei bestimmten Unternehmen eine strengere Aufsicht für angebracht, weil diese in anderen Teilen der Welt unter Ausnutzung menschenrechtswidriger oder korrupter Umstände Geschäfte machen. Wenn also verhindert werden soll, dass die Gemeinschaft darüber informiert wird, was international unter Beteiligung von Schweizer Unternehmen im Rahmen einer ungebührlichen Zusammenarbeit oder einer Ausbeutung geschieht, dann hat dies nichts mit den bürgerlichen und zivilen Werten zu tun, deren sich die Schweiz rühmt. Ein scharfsinniger Theologe schrieb zu diesem Thema: «Wenn Organisationen, die öffentliche Gelder erhalten, diese Mittel nicht mehr nutzen können, um sich Gehör zu verschaffen, verarmt das gesamte demokratische System der Schweiz und muss geändert werden …» (Le Temps 2021). Dabei versteht sich von selbst, dass diejenigen, die Kritik üben, sich an die Fakten und an ein Berufsethos halten müssen.
"Die Aufregung, die dies in Wirtschaftskreisen auslöste, führte zu Interventionen beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, das beschloss, einen Teil der Informationsarbeit von Nichtregierungsorganisationen im Inland nicht länger zu subventionieren – mit der Begründung, sie mischten sich ungebührlich in die Politik ein."
Diese jüngsten Beispiele zeigen, dass die freie Meinungsäusserung, ein zentraler Wert unserer Systeme, nicht vor Gefahren gefeit ist. Manche würden gerne gewisse Stimmen zum Schweigen bringen. Natürlich müssen in diesem Zusammenhang auch Einflussgruppen und andere Lobbys erwähnt werden. Existenz und Rolle dieser Gruppen sind untrennbar mit der politischen Debatte, wie wir sie kennen, verbunden; mit Recht bringen sie ihre Argumente und Wünsche vor. Aber eine zentrale Anforderung dabei ist, sich an solide, akzeptierte Fakten zu halten. Und – um es ein drittes Mal anzuführen – ein Ethos zu beachten. Wir wissen, was wir von denjenigen zu halten haben, die im Hinblick auf Tabak, Softdrinks und gesunde Ernährung Lügen und Zweifel streuen.
Ein scharfsinniger Theologe schrieb zu diesem Thema: «Wenn Organisationen, die öffentliche Gelder erhalten, diese Mittel nicht mehr nutzen können, um sich Gehör zu verschaffen, verarmt das gesamte demokratische System der Schweiz und muss geändert werden …» Le Temps 2021
Seit 50 Jahren decken Forschende auf, wie Teile der Industrie manipulieren, um wissenschaftliche Daten zu unterdrücken und diejenigen zu diskreditieren, die Prävention betreiben. Wir haben es mit Einflussnehmern zu tun, deren Bemühungen in direktem Gegensatz zu den Interessen der öffentlichen Gesundheit stehen
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 14.04.2021 in der Schweizerischen Ärztezeitschrift erschienen.