Von Ernst Hafen und Daniel Boschung
Wer besitzt die digitalen Daten? Es sind private, global agierende Technologiekonzerne, welche die Daten ökonomisch kapitalisieren. Dabei könnten diese Daten für die Forschung und die Stärkung der öffentlichen Gesundheit von grossem Nutzen sein. Die Autoren schlagen ein Genossenschaftsmodell vor, um die Kontrolle der Daten ihren ProduzentInnen zurückzugeben und sie im öffentlichen Interesse nutzbar zu machen.
Zurzeit sind Gesundheitsdaten in verschiedenen Silos gespeichert. Der Zugang zu diesen für teures Geld erstellten Informationen ist enorm schwierig. Deshalb werden Untersuchungen oft unnötigerweise wiederholt. Für Dritte ist der Zugang zurecht nur mit der Einwilligung der Person, von der die Daten stammen, möglich. Obwohl die Person selbst ein Recht auf eine Kopie ihrer Gesundheitsdaten hat, sind diese Daten oft nur in einem schwer lesbaren Format verfügbar. Zunehmend werden gesundheitsrelevante Daten via Smartphone Sensoren kontinuierlich registriert. Dank der raschen Verbesserung dieser Sensoren werden Smartphones in naher Zukunft zu medizinischen Geräten, mit denen man auch noch telefonieren kann.
Auch hier haben wir jedoch die Kontrolle über diese mobilen Gesundheitsdaten weitestgehend verloren. Wir haben uns in den letzten zehn Jahren daran gewöhnt, für Gratis-Apps und Datendienstleistungen mit unseren Daten zu bezahlen. Damit haben wir uns in eine digitale Abhängigkeit begeben, die – wenn wir nichts unternehmen – in den kommenden Jahren durch den Einfluss der künstlichen Intelligenz (KI) noch stark zunehmen wird. Die Firmen und Staaten, die die meisten Daten besitzen, werden die besten Algorithmen entwickeln. Für diese KI unterstützten Diagnosedienstleistungen werden Spitäler und Arztpraxen Rechnungen an ausländische Firmen bezahlen. Ähnliches gilt auch für Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen. Mit der raschen Verbreitung von Smartphones und WLAN Verbindungen wird auch dort die digitale Abhängigkeit von multinationalen Datenkonzernen ähnlich schnell zunehmen.
Die MIDATA Genossenschaft zeigt den Weg, wie Daten für das Gemeinwohl genutzt werden und gleichzeitig die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger auf Souveränität über ihre personenbezogenen Daten gewahrt werden können. (Blasimme et al, 2018)
Die 2015 gegründete Nonprofit-Genossenschaft betreibt eine Datenplattform, agiert als Treuhänderin der Datensammlung und garantiert die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger über die Verwendung ihrer Daten. Die Bürgerinnen und Bürger tragen einerseits als Nutzerinnen und Nutzer der Plattform aktiv zur Forschung bei, indem sie Zugang zu Datensets geben, andererseits als Genossenschaftsmitglieder zur Kontrolle und Entwicklung der Genossenschaft.
Die Statuten der Genossenschaft schreiben ihre Natur als Nonprofit-Organisation fest und verankern die Souveränität der Nutzerinnen und Nutzer über ihre Daten und deren Verwendung (auch in anonymisierter Form). Zur Kontrolle der datenethischen Qualität der Dienstleistungen und angebundenen Projekte existiert eine genossenschaftsinterne Ethikkommission, deren Mitglieder von der Generalversammlung gewählt werden.
Die von MIDATA genutzte Datenplattform wird von der ETH Zürich und der Berner Fachhochschule entwickelt. Sie erlaubt es den Bürgerinnen und Bürgern, ihre Gesundheitsdaten zu sammeln und frei über deren Verwendung in Forschungsprojekten zu verfügen. Sie können damit als "Citizen Scientists" eine aktive Rolle in der medizinischen Forschung spielen.
Das Plattform-Modell erlaubt die Trennung der IT-Plattform (Datenspeicherung, Zugangs- und Einwilligungsmanagement) von den Daten-Anwendungen (mobile Applikationen) und ermöglicht damit ein offenes Innovations-Ökosystem. Den Nutzerinnen und Nutzern werden verschiedene Datendienstleistungen zur Verfügung stehen, und sie können entscheiden, an Forschungsprojekten teilzunehmen. Startups, IT-Dienstleister und Forschungsgruppen können auf der Plattform mobile Apps anbieten, beispielsweise Gesundheits-Apps oder Apps für das Management chronischer Krankheiten.
Die IT-Plattform ist operativ und wird derzeit in mehreren datenwissenschaftlichen Projekten genutzt. In einem Projekt zeichnen Patientinnen und Patienten nach einer Magenbypass-Operation ihr Befinden, Fitness und Gewicht zu Hause auf und teilen die Daten mit dem behandelnden Arzt am Inselspital Bern. In einem anderen Projekt am Universitätsspital Zürich prüfen Patientinnen und Patienten, die an Multipler Sklerose leiden, den Effekt von Behandlungen mittels einer Tablet-App, die ihren kognitiven und motorischen Status testet. Weitere Citizen-Science-Projekte wie beispielsweise eine Allergie-App wurden mit über 8'000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfolgreich umgesetzt.
Die rasche Verbreitung von Smartphones und günstigem Internetzugang wird in den nächsten Jahren zu einer rapiden Zunahme der Smartphone Benutzer in Ländern mit niedrigeren Einkommen führen. Gemäss einer Studie besassen bereits in 2017 37% aller Menschen ein Smartphone. (McNair, 2017) Die Bürger-kontrollierte Verwaltung persönlicher Daten in lokalen MIDATA Genossenschaften weist einen neuen Weg für ein effizienteres, digitales Gesundheitssystem, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihre Daten selbst kontrollieren und aggregieren. Dadurch entsteht einerseits ein neuer Umgang mit Daten (data literacy) und andererseits ein Ökosystem für lokale Datendienstleistungen. Diese werden sich nicht nur auf Gesundheitsdaten beschränken, sondern werden auch Bildungsdaten enthalten. Bildungsdaten, die durch die Benutzung digitaler Plattformen erzeugt werden, können wie Gesundheitsdaten als Kopien unter der Kontrolle der Individuen gespeichert und aggregiert werden. Ausserdem und nicht weniger wichtig, kann die Bürger-kontrollierte Datenverwaltung eine lokale ökonomische Wertschöpfung aus diesen Daten bewirken.
Die ersten 1000 Tage in der Entwicklung eines Kindes sind wichtig und verlaufen unterschiedlich in verschiedenen Teilen der Welt. (Grantham-McGregor et al, 2007) In Ländern mit niedrigen Einkommen sind Gesundheitsdaten für Forschungszwecke als Grundlage für eine bessere Gesundheitsversorgung schwierig zu erhalten. Das Projekt Mothers-help-Mothers setzt sich zum Ziel Müttern, die am gleichen Tag ihr erstes Kind in unterschiedlichen Teilen der Welt (zum Beispiel Schweiz und Tansania) zur Welt gebracht haben, die Möglichkeit zu geben, über eine Smartphone App mit Hilfe von Bildern zu kommunizieren und die Entwicklung ihrer Kinder zu erfassen und zu vergleichen. Die so erfassten Daten würden unter ihrer Kontrolle in ihrem MIDATA Konto gespeichert, und sie entscheiden, ob diese Daten anonymisiert der Forschung zur Verfügung gestellt werden. So könnte ein soziokultureller Austausch stattfinden und gleichzeitig würden Gesundheitsdaten der Kinder kontinuierlich erfasst. Die so erfassten Gesundheitsdaten sind von grossem Nutzen für das Kind und die Mütter selbst. Bei entsprechender Finanzierung soll in einem Pilotprojekt die Machbarkeit und ethische Überwachung dieses neuartigen Ansatzes getestet werden.
Wie im vorherigen Beispiel, handelt es sich auch hier um eine Projektskizze, die erst zusammen mit geeigneten Partnern realisiert werden kann. Der lukrative Markt mit gefälschten Medikamenten in Afrika stellt ein grosses Gesundheitsrisiko dar. (Hirschler, 2017) Ausserdem ist er für Pharmafirmen mit finanziellen Verlusten in Milliardenhöhe verbunden. Mit einer speziellen App könnten Smartphone Besitzer zur Identifikation von gefälschten Medikamenten beitragen, indem sie die erworbenen Medikamente fotografieren. Die so identifizierten Medikamente verbunden mit der Geolokalisierung der Aufnahme könnten von Pharmafirmen mit den Zahlen der effektiv in diese Region gelieferten Medikamente verglichen werden. Zusätzlich zum gesundheitlichen Nutzen einer solchen Bürger-kontrollierten Aktion, bietet dieser Ansatz auch ökonomische Vorteile für lokale Gemeinschaften, denn die Pharmafirmen bezahlen für diese Daten. Diese Gewinne kommen den MIDATA Genossenschaften und so den lokalen Gemeinschaften zugute.
Das Recht auf eine Kopie seiner eigenen Daten ist nun in der EU Datenschutz-grundverordnung verankert und wird wohl bald auch in anderen Ländern als ein Recht zur digitalen Selbstbestimmung anerkannt werden. Für Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen könnte diese Entwicklung transformierend wirken. Erstes, weil die meisten Länder noch kein historisch gewachsenes und schwer zu veränderndes Gesundheitssystem besitzen und zweitens weil dadurch die digitale Revolution noch schneller vorangehen wird. Es könnte zur Reverse Innovation kommen. Wir werden von den Innovationen in diesen Ländern profitieren. Die Verwaltung der Daten in gemeinnützigen demokratisch kontrollierten Genossenschaften gibt den Bürgern die Möglichkeit, nicht nur ihre Daten selbst zu kontrollieren, sondern auch über die Verwaltung und die Verteilung der Gewinne zu bestimmen. Die Demokratisierung der Datenökonomie via Genossenschaften könnte indirekt auch die Politik beeinflussen, da die Kontrolle über ihre Daten, den Bürgern eine neue Macht verleiht.