Von Martin Leschhorn Strebel
Die digitale Gesundheit ist längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen. Es ist Zeit, dass sie sich nun jenseits kommerzieller Interessen auf wirkliche Verbesserungen der gesundheitlichen Situation für die Weltbevölkerung ausrichtet.
Digitale Wirtschaft – digitale Gesundheit: Das Digitale ist in aller Munde und führt dazu, das Regierungen weltweit Digitalstrategien für die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche entwickeln. Ist die Digitalisierung gerade auch im Gesundheitsbereich ein Hype, der schon bald wieder verpufft, bevor unsere Aufmerksamkeit auf den nächsten Megatrend gelenkt wird?
Ein solcher Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre wäre für PraktikerInnen der internationalen Gesundheitszusammenarbeit nicht nur ignorant, sondern auch ein kapitaler Fehler. Geht man durch die verschiedenen Artikel dieses MMS Bulletins muss man schlicht feststellen, dass die Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung eine Realität ist. Digitale Gesundheit beschreibt dabei ein weites Feld von digital basierter Anamnese, über die per SMS unterstützte Therapie bis zum Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Datenanalyse innerhalb eines Gesundheitssystems.
Doch wie stellt sich diese Realität dar? Zunächst interessiert mich dafür das Sprechen über die Digitalisierung, mit der die Realität mitgestaltet wird. Der Diskurs zum Thema folgt dem fast schon klassischen dichotomen Muster, wenn es um technologischen Fortschritt geht. Die Digitalisierung weckt Heilsphantasien, wenn etwa davon die Rede ist, dass sich die Gesundheitsziele der UN Agenda 2030 nur durch ihre konsequente Digitalisierung erreichen lassen. Und sie provoziert Widerstand ganz in der Tradition des Maschinensturms, wenn sie als Ursache weltweiter Ungleichheit beschrieben wird. Wie alle neuen Technologien provoziert die Digitalisierung in den Gesellschaften fundamentale Ängste und gleichzeitig eine Goldgräberstimmung.
Diese dichotomischen Betrachtungsweisen bringen uns nicht weiter. Es lohnt sich genauer zu analysieren, wo wir in der Digitalisierung der Gesundheit denn genau stehen. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung scheint die Digitalisierung noch immer in den legendären Garagen Kaliforniens stehen geblieben zu sein, in der Gates und Jobs die ersten Personalcomputer gebaut und in der Zuckerberg sein Facebook entwickelt hat. Sie erscheint uns als eine Welt, die durch Kreativköpfe und innovative Startups in fast schon anarchistischer Weise in die Zukunft geführt wird.
Diese Gründerzeitphase ist jedoch längst vorbei, denn die Digitalisierung braucht Kapital. Projektchen und Projekte wurden fusioniert, kreative Ideen der sozialen Medien kommerzialisiert und das Feld der digitalen Wirtschaft restrukturiert. Es ist der Moment der Grosskonzerne – gerade auch in der digitalen Gesundheit. Google, Apple und Facebook laden uns ein, unsere Gesundheitsdaten zu sammeln und an sie weiterzugeben. Und es ist auch die Pharmaindustrie, welche in dieser neuen Welt Fuss zu fassen sucht, um ihre Marktmacht auszuspielen. So lancierte die Generika Tochter Sandoz von Novartis eine App zur Therapierung von Opiumsüchtigen, die von der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA zugelassen wurde. (NZZam Sonntag, 15.12.18)
Grosskonzerne bestimmen heute die digitale Wirtschaft dank ihrer Marktmacht. Wie immer pochen sie darauf, dass der Markt die Innovationen im Gesundheitsbereich für alle bereitstellen werde, wenn man ihn nur spielen liesse. Dabei wissen wir, dass ohne Regulierungen durch die öffentliche Hand, dieser Markt durch die Grosskonzerne selbst zugunsten weniger reguliert wird.
Unbestritten – und dies macht diese Ausgabe des MMS Bulletins deutlich – liegt in der digitalen Gesundheit ein grosses Potential. Um dieses etwa für die öffentliche Gesundheit sowohl im nationalen wie auch im globalen Rahmen zu nutzen, braucht es aber auch einen durch die Politik gesetzten Rahmen. Dies legen etwa Siddhartha Jha und Stefan Germann in ihrem Beitrag dar, wenn sie die Bedeutung der Gesundheitsdaten für die öffentliche Gesundheit als so hoch einschätzen, dass diese Daten als öffentliches Gut deklariert werden. Damit erst könnten sie, in anonymisierter Form, nutzbar gemacht werden. In eine ähnliche Richtung ziel das Modell für eine Vergenossenschaftlichung von Gesundheitsdaten, wie es Ernst Hafen und Daniel Boschung von der ETH Zürich in ihrem Beitrag darlegen.
Das Potential der digitalen Gesundheit ist aber auch für die internationale Gesundheitszusammenarbeit von einiger Bedeutung. Dies legen die Beiträge Guillaume Foutry (Fondation Terre des hommes) sowie Michael Hobbins et al. (SolidarMed) nahe. Zentral erscheint mir, dass diese Ansätze nicht einfach als technische Heilmittel angewandt werden, sondern umfassend in die Programmarbeit integriert werden. Denn vieles kann falsch gemacht werden, wie Martin Raab (Swiss TPH) in seinem Beitrag zu den Schlüsselfaktoren aufzeigt, um digitale Gesundheitsprojekte in Regionen mit schwachen Ressourcen umzusetzen.
Unabdingbar, um die digitale Zukunft in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit erfolgreich zu gestalten, sind die Zusammenarbeit und die Kohärenz auf Länderebene. Dies legt der grundlegende Artikel von Steven C. Uggowitzer und seinen KollegInnen nahe. Es braucht keine Millionen von neuen Gadgets. Es braucht klare Strategien und gemeinsam definiertes Vorgehen, damit wir im digitalen Bereich nicht die Fehler wiederholen, wie sie im Gesundheitsbereich mit verschiedenen vertikalen Programmen gemacht wurden: die Fragmentierung der Gesundheitssysteme, die weitere Schwächung von bereits schwachen staatlichen Strukturen und den um die realen Bedürfnisse und dem lokal vorhandenen Wissen herum laborierenden Einsatz von wenig nachhaltigen technischen Lösungen.