Verortungen und Wege in einem anstehenden Transformationsprozess

Dekolonisierung: Die internationale Gesundheitszusammenarbeit und die globale Gesundheit werden von ihrer eigenen Geschichte eingeholt

Von Martin Leschhorn Strebel

Die Dekolonisierungsdebatte in der internationalen Zusammenarbeit hat das Potential den entwicklungspolitischen Sektor grundlegend zu verändern und zukunftsfähig zu machen. Der Artikel versucht die Debatte historisch zu verorten und aufzuzeigen, wie gerade die globale Gesundheit aufgrund ihrer tief verankerten kolonialen Strukturen besonders herausgefordert ist. Die Dringlichkeit der Debatte ist gegeben – es gibt aber auch klare Ansatzpunkte, um die Veränderungen voranzutreiben.

Lesezeit 6 min.
Dekolonisierung: Die internationale Gesundheitszusammenarbeit und die globale Gesundheit werden von ihrer eigenen Geschichte eingeholt
Photo by British Library on Unsplash

Der Ruf der Dekolonisierung der internationalen Zusammenarbeit ertönt seit längerem. Der Begriff der Dekolonisierung ist im entwicklungspolitischen Milieu angekommen. Dies merkt man etwa daran, dass man ein zustimmendes Gemurmel und Kopfnicken erntet, wenn man den Begriff in einer Diskussionsrunde einfliessen lässt. Angesichts der Brisanz der Thematik, scheint mir aber, dass diese grundsätzliche Zustimmung ein Hinweis darauf ist, dass die Dekolonisierungsdebatte mit etlichen Unschärfen geführt wird.

Im Folgenden möchte ich die Debatte um die Dekolonisierung genauer verorten. Es soll aufgezeigt werden, wie sie sich im Kontext der Auseinandersetzung rund um Machtfragen innerhalb der entwicklungspolitischen Debatte entwickelt hat und wie sie sich an das Wissenschaftsfeld der post-Colonial Studies anschliesst. Weiter möchte ich erörtern, welche analytische Qualität sie für das Feld der internationalen Zusammenarbeit hat und weshalb sie insbesondere für internationale Gesundheitszusammenarbeit und globale Gesundheit von besonderer Relevanz ist.

Begriffliche Schärfung

In den Begrifflichkeiten zur Dekolonisierung oder Dekolonialisierung bestehen gewisse Unschärfen. Es gilt grundsätzlich zwei verschiedene Prozesse zu unterscheiden. Einerseits hatten wir es insbesondere in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Befreiung oder Entlassung von kolonial besetzten Gebieten in die Eigenstaatlichkeit zu tun. Dieser völkerrechtliche Prozess des internationalen Rechtes ist weitegehend abgeschlossen. Andererseits haben wir es mit einem Dekolonisierungsprozess zu tun, bei welchem es darum geht, im Zeitalter des Kolonialismus entstandene wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Abhängigkeiten der Gesellschaften des globalen Südens vom globalen Norden zu lösen. Dieser Prozess ist offensichtlich ein noch nicht abgeschlossener oder vielleicht sogar erst begonnener Prozess. Und es ist dieser Prozess, der auch den Kontext der Dekolonisierungsdebatte in der internationalen Zusammenarbeit widerspiegelt.

Den sozial- und kulturwissenschaftlichen Hintergrund der Dekolonisierungsdebatte bilden Erkenntnisse der postkolonialen Studien. Zentral dabei ist, dass der Kolonialismus Gesellschaften strukturell bis heute mitprägt – und dies weltweit. Die Schweizer Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Patricia Purtschert schreibt: «Aus einer postkolonialen Perspektive erscheint der Kolonialismus nicht mehr nur als Thema der ehemaligen Kolonien, sondern als eines, welches die ganze moderne Welt angeht. Diese Einsicht eröffnet eine bedeutsame neue Sicht auf die Gesellschaften, die zur ehemaligen Metropole gehörten.» (Purtschert 2019, S. 125)
Den sozial- und kulturwissenschaftlichen Hintergrund der Dekolonisierungsdebatte bilden Erkenntnisse der postkolonialen Studien. Zentral dabei ist, dass der Kolonialismus Gesellschaften strukturell bis heute mitprägt – und dies weltweit.

Kolonialismus prägt Gesellschaften weltweit

Für unseren Kontext ergibt sich daraus ein dreifacher Erkenntniswert: Erstens sind koloniale Strukturen nicht mit der völkerrechtlichen Entkolonisierung beendet worden; zweitens prägen koloniale Erfahrungen nicht nur kolonialisierte Regionen des globalen Südens, sondern auch den imperialen Norden; und drittens prägen diese Erfahrungen nicht nur Kolonialmächte, sondern auch Länder wie die Schweiz, die selbst über keine Kolonien verfügt haben.

Die koloniale Machtausübung hat die Wahrnehmung über die kolonialisierten Menschen geformt. Der moderne Rassismus gründet im Kolonialismus – eben auch in der Schweiz. Die im kolonialen Zeitalter beliebten Völkerschauen, die auch von zoologischen Gärten durchgeführt wurden, waren Teil des rassistischen Diskurses in jener Zeit, der Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur geprägt hat. Es lässt sich von einem umfassenden Machtsystem sprechen, das Abhängigkeiten geschaffen hat, die bis heute nachwirken. Machtsysteme, welche auch die Entwicklungspolitik bis heute prägen.

Photo: © iStock.com/937540058 <br>
Photo: © iStock.com/937540058
Für unseren Kontext ergibt sich daraus ein dreifacher Erkenntniswert: Erstens sind koloniale Strukturen nicht mit der völkerrechtlichen Entkolonisierung beendet worden; zweitens prägen koloniale Erfahrungen nicht nur kolonialisierte Regionen des globalen Südens, sondern auch den imperialen Norden; und drittens prägen diese Erfahrungen nicht nur Kolonialmächte, sondern auch Länder wie die Schweiz, die selbst über keine Kolonien verfügt haben.

Sensibilität und Blindheit des IZA-Sektors

Dass die Dekolonisierung in der internationalen Zusammenarbeit eine so bedeutsame Rolle spielt, hat verschiedene Gründe. Die Zusammenarbeit und der Austausch mit den Menschen in den ehemaligen Kolonien ist Kernstück der Arbeit im entwicklungspolitischen Sektor. Gleichzeitig gibt es in diesem eine stark verankerte Tradition der Machtkritik bei gleichzeitiger Blindheit gegenüber den eigenen Machtstrukturen und ihren zerstörerischen Folgen. So hat sowohl die #meToo- wie auch die Black-Lives-Matter-Bewegung eine hohe Resonanz in Organisationen der internationalen Zusammenarbeit gefunden und gleichzeitig fundamentale Versäumnisse des Sektors in der Verhinderung von Machtmissbrauch an den Tag gelegt. Dass es dabei um für den Sektor so zentrale Themenfelder wie Rassismus und Geschlechterungleichheit geht, die beide zutiefst durch den Kolonialismus formiert wurden, macht die Brisanz aus und zeigt, wie tief die Dekolonisierungsdebatte letztlich greift.

Die Dekolonisierungsdebatte in der internationalen Zusammenarbeit ist folglich nicht einfach eine neue Debatte rund um Machtverhältnisse: Sie fragt viel grundsätzlicher nach den Grundlagen des Entwicklungssektors und seiner daraus noch immer abgeleiteten Praxis. In einer historischen Perspektive lese ich diese Debatte als eine dritte Phase im Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus, der die internationale Zusammenarbeit seit dem 19. Jahrhundert prägt. Die erste Phase der 50er- und 60er- Jahre des letzten Jahrhunderts ist geprägt durch einen Entwicklungsoptimismus, um den befreiten Ländern des globalen Südens in der Erlangung von Eigenstaatlichkeit und Entwicklung zu helfen. Die zweite Phase bringt nach 1968 eine Politisierung der internationalen Zusammenarbeit mit sich, die von der Kritik an fortschreitenden politischen und kulturellen, wirtschaftlichen und technologischen Abhängigkeiten, dem sogenannten Neokolonialismus, geprägt ist. Sie geht über in die nun grundsätzliche Frage nach der durch den Kolonialismus geprägten strukturellen und mentalen Dimensionen unserer Gesellschaft und des eigenen Sektors.

Die Zusammenarbeit und der Austausch mit den Menschen in den ehemaligen Kolonien ist Kernstück der Arbeit im entwicklungspolitischen Sektor. Gleichzeitig gibt es in diesem eine stark verankerte Tradition der Machtkritik bei gleichzeitiger Blindheit gegenüber den eigenen Machtstrukturen und ihren zerstörerischen Folgen.

Tiefe Verstrickung der globalen Gesundheit

Die Entwicklungszusammenarbeit ist historisch mit dem Kolonialismus verknüpft. Noch sehr viel ausgeprägter trifft dies für die internationale Gesundheitszusammenarbeit und die globale Gesundheit zu. Der Historiker Jürg Osterhammel legt in seiner umfassenden Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts dar, welche drei Gründe für die Durchführung von Pockenimpfkampagnen der Kolonialmächte in ihren Kolonialgebieten im Vordergrund gestanden haben: Sie sollten die Arbeitskraft der Kolonialbevölkerung sichern (1); die Kolonialmächte wollten sich einen guten Ruf als wohltätige Kolonialmacht erwerben (2); das Mutterland sollte vor Erregerimporten geschützt werden (3); (Osterhammel 2009, S. 275). Interessanterweise begründen heute Regierungen ihr staatliches Engagement in der globalen Gesundheit oft ähnlich mit Wohltätigkeit und dem Schutz der eigenen Bevölkerung, was insbesondere in dem durch die Covid-19-Pandemie verstärkt auftretenden Sicherheitsdiskurs zum Ausdruck kommt.

Jesse B. Bump und Ifeyinwa Aniebo analysieren in einem wissenschaftlichen Artikel die Zusammenhänge zwischen der globalen Gesundheit und dem Kolonialismus am Beispiel des Kampfes gegen Malaria. Sie zeigen, dass der Kampf gegen Malaria vor allem kolonialen Interessen gedient habe, und fassen zusammen: «The pattern of malaria as we see it today, on the other hand, were produced by colonialism, and the study of malaria as we know it now was intended to protect colonial interests, not to help Indigenous people or defeat the disease more broadly.» (Bump JB., Aniebo I., 2022).

Am Beispiel der Malariabekämpfung können die beiden Autor:innen zeigen, wie durch den Kolonialismus wissenschaftliche Institutionen zur globalen Gesundheit in den Metropolen gegründet und geformt wurden – und wie koloniale Denk- und Handlungsstrukturen die globale Gesundheit bis heute prägen.

Am Beispiel der Malariabekämpfung können die beiden Autor:innen zeigen, wie durch den Kolonialismus wissenschaftliche Institutionen zur globalen Gesundheit in den Metropolen gegründet und geformt wurden – und wie koloniale Denk- und Handlungsstrukturen die globale Gesundheit bis heute prägen. Der Artikel endet mit einer guten Zusammenfassung, was Dekolonisierung der globalen Gesundheit im Grunde bedeutet: «Decolonization is not fundamentally a rejection of knowledge accumulated under colonial arrangements, nor a return to pre-colonial conditions; instead it is a question of how we change objectives and accountabilities in favor of development and autonomy, and how we use that knowledge to move away from the production of inequality and dependency.» (Bump JB., Aniebo I., 2022)

Wege, um mit tradierten Strukturen zu brechen

Das obige Zitat zeigt, dass die politische Debatte durchaus fruchtbar funktionalisiert werden kann, um in der Praxis der internationalen Zusammenarbeit und globalen Gesundheit grundlegende Veränderungen voranzubringen. Solche lassen sich auch mit Gewinn aus dem Workshopbericht «Time to Decolonise Aid. Insights and lessons from a global consultation» gewinnen. Der Bericht geht den Themenfeldern Sprache, koloniale Wurzeln und strukturellem Rassismus nach (Time to Decolonise Aid 2021, p 20).

Die Dekolonisierungsdebatte bringt eine neue analytische Qualität in die internationale Zusammenarbeit im Allgemeinen und in die globale Gesundheit im Speziellen. Um eine Transformation des Sektors voranzubringen, bei welcher es um nichts weniger geht, als unsere Legitimität in der Zukunft zu sichern, kann an folgenden Punkten angesetzt werden:

  • Die eigene Geschichte anerkennen und die im Kolonialismus verwurzelten Strukturen erkennen und koloniale Dynamiken durchbrechen.
  • Die Machtverhältnisse in der Zusammenarbeit mit den Partner:innen kritisch hinterfragen.
  • Sich für strukturellen Rassismus und Genderungleichheit sensibilisieren und innerhalb eigener Institutionen konsequent abbauen.
  • Monitoring-, Evaluations- und Rechenschaftssysteme, welche die Machtverhältnisse fortschreiben, hinterfragen und die Geldgeber:innen zu Praxisänderungen bringen.
  • Eine dekolonisierte Sprache verwenden, sie in der eigenen Organisation durchsetzen und diese auch von Geldgeber:innen, wie auch von der Politik verlangen.
  • Entscheidungskompetenzen dezentralisieren.

Die Dekolonisierung der internationalen Zusammenarbeit ist wohl die grösste Aufgabe unseres Sektors fürs 21. Jahrhundert. Sie führt zu neuen Formen von Partnerschaften, zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit – und genau das ist die unabdingbare Voraussetzung, ohne die das planetare Überleben nicht gesichert werden kann.

Referenzen
Martin Leschhorn Strebel
Martin Leschhorn Strebel ist Historiker und arbeitet seit dem Jahr 2000 für Nichtregierungsorganisationen. Seit 2008 ist er bei Medicus Mundi Schweiz tätig - seit 2014 als deren Geschäftsführer. Er ist Mitglied der Kommission für Entwicklungszusammenarbeit des Kantons Basel-Stadt und Präsident des internationalen Netzwerks Medicus Mundi International. Email