Von Martin Leschhorn Stebel
Mit diesem Bulletin zur Dekolonisierung veröffentlicht Medicus Mundi Schweiz eine Übersicht zur laufenden Debatte und diskutiert mögliche Wege für die Transformation der internationalen Gesundheitszusammenarbeit und globalen Gesundheit.
Das Thema der Dekolonisierung der internationalen Gesundheitszusammenarbeit und globalen Gesundheit ist in den vier vergangenen Jahren innerhalb des Netzwerk Medicus Mundi Schweiz als Abbild einer Diskussion im ganzen Sektor langsam, aber stetig immer stärker in den Vordergrund getreten. Die Debatte setzt an eine Tradition des Netzwerks an, sich immer auch selbstkritisch mit den eigenen Strukturen und der Praxis der internationalen Gesundheitszusammenarbeit auseinanderzusetzen.
Wesentliche Anstösse kamen von ausserhalb – ausgelöst etwa durch die eigene Betriebsblindheit unseres Sektors gegenüber Geschlechterungleichheit oder strukturell inhärenten Formen des Rassismus’. So lösten die #meToo- oder die Black-Lives-Matter-Bewegung hohe Wellen aus, von welchen vor allem grosse, internationale Nichtregierungsorganisationen betroffen gewesen sind. Diskussionen innerhalb unseres eigenen internationalen Netzwerks Medicus Mundi International (MMI) über die Zukunft der internationalen Gesundheitszusammenarbeit und der Überwindung des Hilfsparadigmas (Beyond Aid) führten schliesslich zur Schaffung der Kampala Initiative.
Innerhalb von MMS wurde an einer Themenplanungssitzung im Spätsommer 2021 die Dekolonisierungsthematik explizit ins Jahresprogramm 2022 aufgenommen. Im Sommer fand ein explorativer Workshop dazu in Basel statt (vgl. MMS Bulletin #123). Mit der hier vorliegenden Ausgabe des MMS Bulletins soll nun ein Überblick über den Stand der Debatte geschaffen werden.
Insgesamt gibt diese Nummer des MMS Bulletins einen guten Einblick in den Stand der Dekolonisierungsdebatte und verschafft vor allem eine Reihe von Anregungen, wie die internationale Gesundheitszusammenarbeit sich verändern muss, um – endlich – ihre unseligen kolonialen Strukturen hinter sich zu lassen. Medicus Mundi Schweiz wird das Thema 2023 weiterverfolgen und im Rahmen seines 50 Jahrjubiläums der Dekolonisierung einen gewichtigen Platz einräumen.
Im ersten Teil gehen die Autor:innen dem Begriff der Dekolonisierung auf verschiedenenWegen auf die Spur. Sie verorten diese im historischen Kontext (Leschhorn), in den Entwicklungen der globalen Gesundheit in den letzten 20 Jahren (Barigazzi et al.) oder aber daüber, wie ökonomische Ressourcen verteilt sind (Cuero).
In einem zweiten Teil geht das MMS Bulletin den Strukturen nach, die dazu führen, dass koloniale Abhängigkeiten in der internationalen Zusammenarbeit im Spiel sind. Joviah Gonza und Danny Gotta weisen darauf hin, wie noch immer ein weisser Helfersimperativ im globalen Norden wirksam ist, globale Gesundheitsstrukturen Ungleichheiten stärken und lokale und soziale Gemeinschaften marginalisiert werden. Nago Humbert untersucht die diskursiven Verstrickungen zwischen der humanitären Hilfe mit der Viktimisierung und Kolonialisierung der Opfer in der internationalen Zusammenarbeit. Eine weitere Problematik besteht in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit insbesondere darin, dass sowohl der Krankheits- wie der Gesundheitsbegriff sehr stark durch die Vorstellungswelten der Länder hohen Einkommens geprägt sind. Dekolonisierung heisst damit für O. Ravaka Andriamihaja auch, dass die Vielfalt des kulturellen Weltverständnisses wie auch die damit verbundene Wissensproduktion zugelassen wird, was auch mit einer Dekolonisierung der Wissenschaft verbunden ist.
Auf die Bedeutung von bestehenden Wissenssystemen, die durch die weisse Kolonisierung zerstört worden sind, weist auch der Beitrag von IAMANEH (Dankwa) hin, der den letzten Teil des MMS Bulletins einläutet. Die Autorin zeigt auf, wie eine Transformation seitens von Organisationen der internationalen Gesundheitszusammenarbeit aussehen könnte. IAMANEH startete einen Lernprozess mit den Angestellten in der Schweiz und lernt als Organisation im Rahmen von Workshops mit Partnerorganisationen im globalen Süden. Es ist eindrücklich zu lesen, welche Reflexionen über Machtverhältnisse dies mit sich bringt.
In einem weiteren Artikel in diesem Teil des Bulletins zeigt plan:g, eine österreichische Organisation und Mitglied des Netzwerks Medicus Mundi International auf, was es bedeutet, wenn die überbrachten Machtverhältnisse am entscheidenden Punkt, dem Finanzierungssystem, angegangen werden (Moosbrugger und Emmerich).
Machtverhältnisse stehen im Zentrum der Dekolonisierungsdebatte. A.H. Monjurul Kabir von UN Women weitet in seinem abschliessenden Text den Blick auf die SDGs und wie Diversität und Intersektionalität in der internationalen Zusammenarbeit einen Weg voran bilden können.
Insgesamt gibt die Nummer des MMS Bulletins einen guten Einblick in den Stand der Dekolonisierungsdebatte und verschafft vor allem eine Reihe von Anregungen, wie die internationale Gesundheitszusammenarbeit sich verändern muss, um – endlich – ihre unseligen kolonialen Strukturen hinter sich zu lassen. Medicus Mundi Schweiz wird das Thema 2023 weiterverfolgen und im Rahmen seines 50 Jahrjubiläums der Dekolonisierung einen gewichtigen Platz einräumen.