Eine Analyse

Aus der Wohltätigkeit zu Zusammenarbeit und Solidarität: Entwicklungshilfe (einmal mehr) kritisch hinterfragt

Von Thomas Schwarz

In Zeiten von Covid-19 zeigt sich in aller Deutlichkeit die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit und Solidarität, auch wenn es sich beim Slogan „niemand ist sicher, wenn nicht alle sicher sind“ zunächst einmal um den Ausdruck eines „aufgeklärten Egoismus“ handelt. In der Pandemie zeigen sich aber auch die ungleichen Bedingungen und Chancen und die immanente Ungerechtigkeit einer von Wirtschaftsinteressen und Eigennutz bestimmten Weltordnung respektive Weltunordnung, die durch „helfen“ allein nicht überwunden wird.

Lesezeit 6 min.
Aus der Wohltätigkeit zu Zusammenarbeit und Solidarität: Entwicklungshilfe (einmal mehr) kritisch hinterfragt
Foto: pixabay.com

Diese immanente Ungerechtigkeit zeigt sich nicht zuletzt im ungleichen Zugang zu Covid-Impfstoffen oder in den ungleich stärkeren Auswirkungen gesundheitspolizeilicher Massnahmen auf die Lebensgrundlagen und Lebensumstände von armen, benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsschichten – und dies gilt sowohl für Ostafrika wie auch die Ostschweiz – während sich die Wohlhabenderen in allen Ländern mit der Pandemie besser arrangiert haben oder gar in obszöner Weise von ihr profitieren.

Ein COVAX-Impfstoffhilfsprogramm ist da nichts weiter als ein Tropfen auf dem heissen Stein, oder schlimmstenfalls eine Ablenkung von dem, was grundsätzlicher zu tun wäre.


Trotz aller Kritik – ein Ende der Entwicklungszusammenarbeit ist nicht in Sicht…

Was schon gewiss ist, auch aufgrund der steigenden Staatsverschuldung in vielen Ländern im Laufe der Pandemiebekämpfung: Auch nach dem Ende der Covid-Pandemie werden viele Staaten und Gesellschaften im sogenannten globalen Süden, die sich um einen gerechten Zugang aller Menschen und Gemeinschaften zu Gesundheitsversorgung bemühen, weiterhin auf die Gelder und Leistungen aus der Entwicklungshilfe angewiesen sein, ob sie dies nun wollen oder nicht.

Der Graben zwischen einer mangelhaften und unterfinanzierten öffentlichen Gesundheitsversorgung und einem sich stark ausbreitenden kommerziellen nationalen und globalisierten Gesundheitssektor, der sich in der Regel auf zahlungskräftige Kundschaft konzentriert und dabei gutes Geld verdient, wird in vielen Ländern in absehbarere Zeit nicht kleiner, sondern grösser.

Um da einige der ärgsten Löcher zu stopfen, bleibt „Hilfe“ vorderhand eine Realität – und es ist weiterhin nötig, diese Realität und ihre Akteure, Strukturen, Paradigmen und Programme (also uns und unsere Arbeit) kritisch zu beleuchten und zu hinterfragen.

Das seit den Achtzigerjahren oft angekündigte „Ende der Entwicklungszusammenarbeit“ ist nicht in Sicht, auch nicht im neoliberalen Sinne des globalen Marktes, der dann schon alles regeln wird.

Der Graben zwischen einer mangelhaften und unterfinanzierten öffentlichen Gesundheitsversorgung und einem sich stark ausbreitenden kommerziellen nationalen und globalisierten Gesundheitssektor, der sich in der Regel auf zahlungskräftige Kundschaft konzentriert und dabei gutes Geld verdient, wird in vielen Ländern in absehbarere Zeit nicht kleiner, sondern grösser.

Sich kritische Fragen zu Legitimation, Relevanz und Wirksamkeit der Entwicklungshilfe zu stellen, gehört wohl zur politischen Sozialisation aller, die sich für Solidarität und Gerechtigkeit einsetzen, und aller, die selbst in diesem Bereich arbeiten, auf der Grundlage von Menschlichkeit und Nächstenliebe und des damit verbundenen Helfens und Teilens.

Anderseits haben es viele „Helfer“ und „Helferinnen“ mit ihrer Kombination von Selbstgefälligkeit und Ahnungslosigkeit ihren Kritikern und Kritikerinnen auch einfach gemacht. Was haben die Älteren unter uns doch seinerzeit gelacht beim Lesen von Isolde Schaads Buch „Knowhow am Kilimanscharo“, und wie haben wir uns über Bob Geldofs „Band Aid“ Konzert im Wembleystadion genervt: Band Aid, Heftplaster statt Heilung.

Nicht nur haben sich in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Bücherregale mit kritischen Analysen und Forderungen zur Entwicklungszusammenarbeit gefüllt. Auch die Hilfswerke und andere Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit haben seither viel hinzugelernt.

Zumindest auf Diskursebene kommt die Entwicklungshilfe oder „internationale Zusammenarbeit“ heutzutage viel selbstkritischer, viel bewusster daher. Dies ist auch notwendig, denn die Herausforderungen sind noch dieselben.

In Deutschland hat etwa medico international das Konzept der „kritischen Nothilfe“ auf den Punkt gebracht und die Kritik der „Wohltätigkeit“ mit einer fundierten Globalisierungskritik und der Forderung nach echter Solidarität verbunden.

Die Beiträge von medico sind gerade deshalb so relevant und herausfordernd, weil sie aus einer kritischen Innensicht geschrieben sind. Das ist keine souveräne Abrechnung mit dem „Entwicklungsbusiness“ aufgrund akademischer oder journalistischer Recherche, da geht es um das Ringen um Sinn aus der Perspektive des solidarischen Handelns. „Einmal mehr, hatten wir doch schon”, werden wohl einige einwenden. - Ja, einmal mehr. Weil es halt immer noch nötig ist.

Zumindest auf Diskursebene kommt die Entwicklungshilfe oder „internationale Zusammenarbeit“ heutzutage viel selbstkritischer, viel bewusster daher. Dies ist auch notwendig, denn die Herausforderungen sind noch dieselben.
Photo by Yeshi Kangrang on Unsplash
Photo by Yeshi Kangrang on Unsplash

Ein Prozess der Selbstreflexion ist nötig

Das Netzwerk Medicus Mundi International (MMI), verbindet in seiner Arbeit und in seinen Beiträgen die Felder der Gesundheitsversorgung und internationalen Gesundheitspolitik. Das Netzwerk hat sich in den letzten zehn Jahren in Publikationen und Anlässen vertieft mit Fragen der Relevanz, Legitimation und Wirksamkeit der Gesundheitszusammenarbeit auseinandergesetzt – ein nicht einfacher Prozess der Selbstreflektion, dem sich auch nicht alle Mitglieder des Netzwerks gleichermassen gestellt haben.

Wir haben damit begonnen, die Problembereiche zu benennen und zu beleuchten:

  • Die Grundfragen der Legitimität, der Werte und Interessen,
  • die Akteure und ihr Verhalten,
  • die Kernfrage der Wirksamkeit,
  • aber auch die Methoden und Praktiken

Eine Aussage aus dem Film „a luta continua“ von Medicus Mundi Spanien, der die Rolle internationaler Akteure in der Gesundheitsversorgung von Mozambique kritisch beleuchtet: „Es ist schwer, nein zu sagen, wenn jemand mit 100 Millionen kommt“.

Im Jahr 2016 hat Medicus Mundi International in einem Diskussionspapier festgehalten, dass die internationale Gesundheitszusammenarbeit, um relevant, legitim und wirksam zu sein, drei Grundbedingungen erfüllen muss:

  • Sie leistet einen Beitrag zur Verbesserung des Zugangs aller zu besserer Gesundheit und Gesundheitsversorgung
  • Sie ist sich ihrer strukturellen Rolle, Verantwortung und Grenzen bewusst
  • Sie bemüht sich kontinuierlich um Verbesserung ihrer Ansätze und Praktiken

Auf der Grundlage des Diskussionspapiers haben wir den Dialog mit unseren Mitgliedern vertieft, in internen Workshops, aber auch mit Anlässen an der „People’s Health Assembly“ in Dhaka und an der Weltkonferenz zu Primary Health Care in Astana sowie mit einer Reihe von thematischen Workshops zu besonders herausfordernden Themen wie etwa der sexuellen Ausnützung im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit.

Im Herbst 2019 haben wir den Schritt über die kritische Innensicht und den Austausch im mehr oder weniger geschützten Bereich hinaus unternommen und gemeinsam mit dem People’s Health Movement und Organisationen aus Ostafrika zum einem zivilgesellschaftlichen Workshop in Kampala eingeladen.

Das Thema des Workshops, „How to advance cooperation and solidarity for health equity within and beyond aid“ wurde im Vorfeld des Anlasses in einer gemeinsamen Planungsgruppe konkretisiert, mit vier politischen Leitfragen und einer Reihe von ausgesuchten Fallstudien, die dann in einer Serie von Webinars und am Workshop selbst beleuchtet wurden:

  • Trägt Entwicklungshilfe eher zur Stabilisierung oder Überwindung eines ungerechten globalen Handelsregimes bei?
  • Werden nationale Gesundheitspolitiken, -systeme und -prozesse durch Entwicklungshilfe und den Hilfesektor eher unterstütz oder behindert?
  • Welche Vertretung, welche Stimme(n) der Zivilgesellschaft in globalen Foren und Prozessen?
  • Von „Hilfe“ zu globaler Solidarität jenseits des „Helfens“
    (auch im Sinne einer kritische Diskursanalyse)

Eine etwas unerwartete Erkenntnis aus dem Workshop bestand darin, dass es auch für die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen aus verschiedenen afrikanischen Ländern keineswegs selbstverständlich und einfach ist, sich mit der Entwicklungszusammenarbeit kritisch auseinandersetzen. Viele Organisationen sind selbst ein Teil des Systems geworden. Nationale „Dialogplattformen“ werden von smarten, hochprofessionellen NGOs dominiert, und eine Interessensharmonie zwischen Regierungen, internationalen Programmen und nichtstaatlichen Akteuren erstickt kritische Fragen im Ansatz. Und ja, die Hand die Dich füttert...

Am Workshop selbst stand die „politische“ oder grundsätzliche Analyse und Debatte aber nicht im Vordergrund. Die Frage, was denn eigentlich das Problem ist, wurde konsequent ergänzt mit der Frage, was getan werden kann, und auf die einzelnen Geschichten und Fälle „heruntergebrochen“.

Am Ende des Workshops waren sich die Teilnehmenden einig, dass es in den vier Themen- respektive Aktionsbereichen tatsächlich einiges zu tun gibt, und dass auch der im Workshop geschaffene Raum für einen offenen, ehrlichen und gleichberechtigten Dialog um Entwicklungshilfe erhalten werden soll.

Eine etwas unerwartete Erkenntnis aus dem Workshop bestand darin, dass es auch für die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen aus verschiedenen afrikanischen Ländern keineswegs selbstverständlich und einfach ist, sich mit der Entwicklungszusammenarbeit kritisch auseinandersetzen. Viele Organisationen sind selbst ein Teil des Systems geworden.
Banner: MMI <br>
Banner: MMI

Die Kampala-Intiative – eine globale Bewegung

So entstand aus dem „Kampala-Workshop“ die „Kampala-Initiative“ als Versuch, ein demokratisches zivilgesellschaftlichen Forum von unabhängigen, kritisch denkenden Aktivist:innen und Organisationen aus dem globalen Süden und Norden zu schaffen mit dem Ziel, im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit und darüber hinaus Solidarität und Zusammenarbeit neu zu definieren und einzufordern.

Mit ihrer „Erklärung von Kampala“ hat sich die Kampala-Initiative einen programmatischen Rahmen gesetzt. Über 80 Organisationen, darunter auch Plan-G, haben die Erklärung seit ihrer Lancierung im Januar 2020 unterzeichnet.

Plan.g hat die in der Erklärung von Kampala enthaltenen „Handlungsaufforderungen“ auf seiner Website wie folgt umgesetzt:

„Mit Zeichnung der Kampala-Erklärung bekräftigt plan:g die Notwendigkeit:

  • eine kritische Analyse von „Entwicklungshilfe“ zu fördern und den Missbrauch sowie die unbeabsichtigte negative Wirkung von Hilfe zu thematisieren;
  • die den Hilfsstrukturen inhärenten, ungleichen Machtbeziehungen zu benennen und zu verändern;
  • die Ursachen für Gesundheit und Krankheit zu verstehen und anzuerkennen, dass Hilfe keine nachhaltige Lösung ist;
  • die schädliche Wirkung von Wohltätigkeits- und Hilfsnarrativen anzuerkennen und zu benennen;
  • ungleiche Machtbeziehungen in unserem eigenen Wirken zu erkennen und zu verändern;
  • partnerschaftlich im globalen Süden und Norden solidarisch zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die internationale Gesundheitsfinanzierung auf sozialer Gerechtigkeit und nicht auf neokolonialen Ideen und Praktiken beruht.“

Die Kampala-Initiative ist ein lockerer und unterorganisierter informeller Zusammenschluss geblieben, eine „Nicht-Institution“, mit ein paar Arbeitsgruppen, einer Serie von online-Veranstaltungen und einer Mailingliste zum Austausch zwischen den Mitgliedern. Der Versuch, ein richtiges Sekretariat in Kampala aufzubauen, ist bisher aus verschiedenen Gründen nicht entscheidend vorangekommen.

Die Arbeit in den einzelnen Themenbereichen geht voran, wenn auch mit unterschiedlicher Sichtbarkeit und Dynamik. Und wir sind uns bei weitem nicht immer einig. Gerade jetzt bin ich in einer interessanten Debatte mit Kolleg:nnen der „Track Changing Initiative“, die, aus guten Gründen, vorschlagen, den Begriff „Entwicklungshilfe“ (aid) gar nicht mehr zu benutzen.

2021 hat sich die Kampala-Initiative, mit einem kurzen programmatischen Text und einem neuen Erscheinungsbild, als Teil einer globalen und sektorübergreifenden Bewegung der Dekolonialität positioniert, die die auch nach der in den 60er und 70 Jahren des letzten Jahrhunderts erreichten politischen Dekolonisation fortbestehende wirtschaftliche, geopolitische und kulturelle Dominanz des globalen Nordens kritisch hinterfragt.

Im ihrem eigenen Themenbereich formuliert die Kampala-Initiative den Dekolonialitätsansatz wie folgt:

Auch in der Kritik der Entwicklungszusammenarbeit selbst und in der Förderung von Solidarität gilt es die herkömmlichen Muster zu hinterfragen, sich mit den Akteur:innen und ihrer Macht und Definitionsmacht auseinanderzusetzen, und Dekolonialität anzustreben. Dies betrifft sowohl unsere politische Arbeit, aber auch die Kampala-Initiative selbst:

  • wie sie selbst als Community und zivilgesellschaftlicher Raum aufgebaut ist, und wie sie mit Fragen der informellen und formellen Macht, Gouvernanz und Repräsentation umgeht
  • was ihren eigenen Umgang mit dem Hilfediskurs betrifft, und ihre Positionierung zur Dekolonialitätsbewegung
  • ob und wie sie es schafft, neue und schwierig zu erreichende Akteure, in ihre Arbeit einzubinden.

Für ein NGO-Netzwerk wie MMI bleibt das eine grosse und spannende Herausforderung.

Der Text beruht auf einem Referat von Thomas Schwarz an einer Veranstaltung von plan:g zum Welttag der Kranken, 11. Februar 2022

Thomas Schwarz
Thomas Schwarz ist Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi International (MMI). In dieser Funktion initiierte er auch das Projekt eines zivilgesellschaftlichen Genfer Global Health Hub (G2H2), das 2016 von einer Gruppe von Organisationen ins Leben gerufen wurde und seither vom MMI-Sekretariat betreut wird. Thomas ist auch Co-Host des Sekretariats der Kampala-Initiative ("Decolonize health cooperation, the critique of aid and the promotion of solidarity") und des zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses "Health Workers for All Coalition". Email