Von Beat Stoll
Im nächsten Jahr feiern wir 30 Jahre primäre Gesundheitsversorgung. Die „Primary Health Care“ bildete 1978 die revolutionär anmutende Antwort der Konferenz von Alma Ata auf die zunehmende Zentralisierung und Hierarchisierung der Gesundheitssysteme und setzte neue Prioritäten: Kampf gegen die Infektionskrankheiten, Impfstrategien, Malariakontrolle, einfache Richtlinien zur Behandlung der häufigsten Erkrankungen im Frühkindesalter, gekoppelt mit entsprechender Gesundheitserziehung.
Revolutionär wäre die primäre Gesundheitsversorgung auch heute noch. Allein, ihre Erfolgsbilanz fällt ernüchternd aus. Um die Gesundheit der Menschen nachhaltig zu verbessern und um die Gesundheitsversorgungssysteme auf lange Sicht tragbar zu gestalten, hätte es eine starke sozioökonomische Entwicklung und die deutliche Verbesserung der Wirtschaftslage und der Kaufkraft der Menschen benötigt. Diese Entwicklungen sind aber in vielen Regionen der Welt ausgeblieben, und somit sind auch die primären Gesundheitssysteme häufig in zaghaften Ansätzen stecken geblieben.
Das alles ist uns nicht unbekannt und auch nicht Gegenstand dieser Bulletinausgabe, in der wir einen in der primären Gesundheitsversorgung – und in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit – zu wenig beachteten Trend in den Mittelpunkt stellen: die Zunahme der chronischen Krankheiten. Eine höhere Lebenserwartung sowie die zunehmende Urbanisierung – rund die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten – führten auch in armen Ländern zu Veränderungen im Lebensstil der Menschen und zum vermehrten Auftreten nicht übertragbarer Krankheiten wie etwa Diabetes (Zuckerkrankheit) und Bluthochdruck, aber auch zur Häufung von Problemen im Bereich der psychischen Gesundheit.
In absoluten Zahlen umfassen die chronischen Krankheiten heute den weitaus grösseren Anteil der Krankheitslast als die akuten Krankheiten. Und wie vor 30 Jahren sind die peripheren, der Landbevölkerung nahe stehenden Gesundheitsstrukturen erneut herausgefordert: Welches sind die Bedürfnisse der Bevölkerung? Was bedeutet das Auftreten einer chronischen Krankheit für eine Familie? Wie gehen sie mit einem an einer chronischen Krankheit leidenden Mitglied um? Was bedeutet die Krankheit für die wirtschaftliche Situation einer Familie? Welches neue Wissen müssen Gesundheitsfachleute erwerben?
Chronische Krankheiten erfordern ein langfristiges Begleiten, den Einbezug der Familie und des Umfeldes, eine Neuorientierung der Behandlungskette von der Selbsthilfegruppe bis zum community health worker, von der allgemeinen Krankenpflege zu spezialisierten Fachkräften. Dabei gewinnt auch die Fähigkeit, mit den PatientInnen eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, an Bedeutung.
Die primäre Gesundheitsversorgung bleibt – 30 Jahre nach Altma Ata – eine gültige Antwort auf die Herausforderungen der Zeit, unter der Voraussetzung, dass das Thema der chronischen Krankheiten rasch Eingang in die Planung und Umsetzung der gegebenen Gesundheitsstrukturen findet.
*Dr. med. Beat Stoll MPH ist Vorstandsmitglied bei Medicus Mundi Schweiz
und arbeitet am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Genf.
Kontakt: beat.stoll@imsp.unige.ch.