Von Michael Krawinkel
In den letzten 15 Jahren hat sich neben der Mangelernährung in vielen Ländern kalorische Überernährung eines Teils der Bevölkerung etabliert: die Menschen nehmen mehr als genügend Nahrungsenergie zu sich. Wie auch in den Industrieländern führt dies nicht nur zu Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit), sondern vor allem auch zu Folgeerkrankungen am Herz-Kreislaufsystem und zu Diabetes mellitus Typ II (Zuckerkrankheit durch Insulinresistenz).
Das 21. Jahrhundert beginnt mit dem Widerspruch zwischen einer globalen Nahrungsmittelproduktion, die den Bedarf der wachsenden Weltbevölkerung voraussichtlich auch in dreissig Jahren noch decken kann, und zeitweise auftretender Ernährungsunsicherheit sowie regionalen Hungersnöten. Etwa 800 Millionen Menschen haben nicht jeden Tag genug zu essen - manche ein Leben lang.
Unterernährung äussert sich aber nicht nur in Hungersnot. Mangel an einzelnen Nährstoffen, insbesondere Eisen, Vitamin A und Jod, verursacht den sogenannten „hidden hunger“. Dieser äussert sich nicht in Untergewicht, sondern in spezifischen Symptomen von Anämie und Kropf bis zu Erblindung; bei Vitamin A-Mangel auch erhöhter Mortalität durch Infektionen.
Die Ernährungsstörungen stellen die Gesundheitssysteme der Entwicklungsländer vor erhebliche Herausforderungen: die Behandlung der Folgeerkrankungen der Adipositas ist aufwändig, da die meisten Menschen keinen Zugang zu Diagnostik und Therapie haben. Daher kommt der Prävention durch Ernährung - und auch der diätetischen Behandlung - eine weit grössere Bedeutung zu, als in den Industrieländern bisher üblich.
Die Daten der Weltgesundheitsorganisation zeigen bis heute eine hohe Rate von Menschen mit Unter- und Mangelernährung an. Über 200 Millionen Menschen weltweit haben einen Body Mass Index von weniger als 17 kg/m2. 90 Prozent dieser Menschen leben in 120 Entwicklungsländern. UNICEF zeigte, dass dort 15 Prozent der Kinder mit zu niedrigem Gewicht (<2500 g) geboren werden, in Südasien sind es sogar 25 Prozent, gefolgt von 12 Prozent in Afrika südlich der Sahara.
Eisenmangel betrifft 2,5 Milliarden Menschen weltweit und ist eine der Hauptursachen für die hohe Müttersterblichkeit, da Frauen mit ausgeprägten Anämien die - relativ geringen - Blutverluste unter der Geburt nicht überleben. In Afrika und Asien sind mehr als 50 Prozent der Schwangeren, die eine Schwangerenbetreuung in Anspruch nehmen, davon betroffen.
Vitamin-A-Mangel ist für die Erblindung von 2,8 Millionen Kindern unter 5 Jahren verantwortlich, aber die Xerophthalmie – Die Schädigung der Hornhaus als Folge des Mangels - ist nur eine Seite, denn Vitamin A ist auch für die Immunabwehr von Bedeutung: ein Mangel lässt die Sterblichkeit an Infektionen dramatisch steigen.
Der Jodmangel, der bei etwa 700 Millionen Menschen weltweit besteht, äussert sich nicht nur in einer Vergrösserung der Schilddrüse, sondern führt zu einer schweren Einschränkung der geistigen Fähigkeiten und zu vermindertem Wachstum.
Alle Formen der Mangelernährung, besonders aber der Mangel an allen Nährstoffen und Energie – früher als Protein-Energie-Malnutrition bezeichnet - sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch ein Leitsymptom der fortgeschrittenen HIV-Infektion. Das hängt sowohl mit der Diskrepanz zwischen Energie- und Nährstoffbedarf und der Aufnahme mit der Nahrung zusammen als auch mit den Folgen der Erkrankung und des Todes der aktiven Familienmitglieder in ihren „besten Jahren“.
Beobachtungen in China zeigen eine deutliche Veränderung des Ernährungsverhaltens vieler Menschen in der kurzen Zeit zwischen 1989 und 1997: in allen Einkommensgruppen nahm der Anteil der Menschen, die weniger als 10 Prozent der Nahrungsenergie aus Fett aufnahmen, deutlich ab. Gleichzeitig stieg der Anteil der Menschen, die 30 Prozent und mehr der Nahrungsenergie aus Fett aufnahmen, um den Faktor 2 und erreicht mehr als 50 Prozent in der oberen, mehr als 30 Prozent in der mittleren und immer noch 20 Prozent in der unteren Einkommensgruppe. (1)
Die Folgen einer solchen Veränderung sind in vielen Entwicklungsländern dokumentiert, zum Beispiel in Marokko, Ghana, Ägypten und Tansania, in Chile, Costa Rica und Haiti sowie in China und Indien: die Rate übergewichtiger und adipöser Schulkinder steigt deutlich an. In Tansania haben wir selbst in einer ländlichen Region Raten von über 20 Prozent übergewichtiger Frauen gefunden. Dasselbe Resultat zeigte sich bei Untersuchungen in Sri Lanka.
Bei Untersuchungen in der Ambulanz für Zuckerkranke (Diabetiker) in einem tansanischen Krankenhaus fanden wir zwei Drittel der Patienten übergewichtig und adipös, was den gleichen Zusammenhang anzeigt wie in Industrieländern.
Der gesteigerte Verzehr von Fett aus Nahrungsmitteln tierischer Herkunft geht mit einer höheren Aufnahme von Cholesterin und gesättigten Fettsäuren einher. Gleichzeitig werden weniger pflanzliche Nahrungsmittel aufgenommen; damit fehlen wichtige Ballaststoffe, die die Ausscheidung von Cholesterin fördern sowie Vitamine und sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die dem sogenannten oxidativen Stress vorbeugen. Diesem Stress wird unter anderem Bedeutung für die Entstehung von Arteriosklerose zugeschrieben. Bluthochdruck (arterielle Hypertonie) ist ein weiterer Mediator für Herzinfarkt und Schlaganfall.
Die wirtschaftliche Globalisierung verbessert zumindest für Teile der Bevölkerung in nichtindustrialisierten Ländern den Zugang zu Wissen und Information. Neben dem Zugang zu seriöser Information eröffnet sich damit jedoch auch das Feld der Produktwerbung aller Art sowie einer einseitig positiven Wahrnehmung von Lebensstilen, die als Vorbilder eher gesundheitsabträgliche als gesundheitsfördernde Verhaltensweisen vermitteln. Unter dem – mit vielen Milliarden Dollar und Euro finanzierten – Werbeeinfluss ist das “moderne“ Konsumverhalten geprägt worden. Durch den Zusatz von Fett, Zucker und/oder Salz werden pflanzliche Lebensmittel so verarbeitet, dass sie ernährungsphysiologisch eine Reihe von Eigenschaften tierischer Lebensmittel annehmen (etwa Pommes frites, Kartoffelchips, gezuckerte Maisflocken und andere hochverarbeitete Getreideprodukte).
Neben der Vermeidbarkeit der Folgeerkrankungen der Adipositas ist das grösste Dilemma, dem die Entwicklungsländer gegenüber stehen, die Tatsache, dass teuere Diagnostik und Therapie nur den wenigsten Menschen dort zugänglich ist. Die meisten - besonders in ländlichen Regionen - können weder die Medikamente noch etwa Insulin bezahlen. Zur Diagnostik und Frühbehandlung von Herzinfarkt gibt es in ganz Afrika weniger Behandlungsplätze als in der Schweiz.
Das hat zur Folge, dass im Jahr 2003 weltweit genauso viele Menschen an den Folgen von Diabetes mellitus starben wie an Aids; und wie bei Aids ereignet sich die grosse Mehrzahl der Todesfälle in Entwicklungsländern, wo kein Zugang zu adäquater Diagnostik und Therapie gewährleistet ist.
Bei Tumortherapien - auch eine Reihe von Krebserkrankungen wird heute mit Übergewicht und Adipositas in Verbindung gebracht - ist die Situation noch verheerender: Frühdiagnose kann nicht angeboten werden, und die Tumortherapie mit Medikamenten und Bestrahlung ist für die meisten Patienten unerschwinglich.
Vor diesem Hintergrund müssen angepasste Konzepte für den Umgang mit den chronischen nicht-übertragbaren Krankheiten entwickelt und gefördert werden. Der Schlüssel für dieses Problem liegt in der Ernährung, und zwar sowohl in der individuellen Ernährung als auch im Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege.
Paradoxerweise bietet die traditionelle afrikanische und asiatische Ernährung vielerorts eine billige und praktikable Alternative zu einer Kost mit importierten und hoch verarbeiteten Lebensmitteln. Sie ist wesentlich auf einer Vielfalt pflanzlicher Lebensmittel aufgebaut und zeichnet sich durch eine geringe Energiedichte sowie durch einen hohen Gehalt an bioaktiven, gesundheitsfördernden Pflanzeninhaltsstoffen aus. Beides sind Eigenschaften, die der Entstehung von Adipositas, Diabetes mellitus Typ II und chronisch-degenerativen Herz- und Gefässerkrankungen vorbeugen.
Daneben lernen wir über manche indigenen Gemüse- und Kräuterarten, dass sie zur Prävention und Behandlung von Zuckerkrankheit und Herz-Kreislauf-Krankheiten beitragen können. So konnten für die in Asien verbreitete Bittergurke (bitter gourd) blutzuckersenkende Wirkungen gezeigt werden (2); der potentielle Nutzen für die Diabetesbehandlung ist Gegenstand aktueller Forschung.
Diätetische Ansätze zur Prävention auf individueller und Bevölkerungsebene werden mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation und in Zusammenhang mit der Förderung körperlicher Aktivität auch in Entwicklungsländern vorangetrieben. Bei der Bekämpfung des Hungers stellt sich heute auch die Aufgabe zu verhindern, dass die Menschen nach Überwindung der Mangelernährung eine kalorische Überernährung entwickeln. Die Bekämpfung des Hungers bleibt aber ebenfalls eine wichtige Aufgabe, denn Mangel vor der Geburt und in der frühen Kindheit haben sich als Risikofaktor für das spätere Auftreten eines „metabolischen Syndroms“ herausgestellt: offensichtlich wird der Stoffwechsel in Mangelsituationen so umgestellt, dass auch langfristig alle aufgenommene Nahrungsenergie voll ausgenutzt wird. Ist die Mangelsituation überwunden, führt dies zu Übergewicht und Adipositas.
Ernährung ist ein Schlüssel zur Vermeidung von nicht-infektiösen Gesundheitsstörungen, die sich mit epidemischen Ausmassen auch in den Entwicklungsländern abzeichnen. Dabei darf nicht nur der einzelne Mensch im Blickfeld sein. Die wirkungsvolle Vorbeugung dieser Epidemien ist eine Aufgabe für die Ernährungs-, Gesundheits- und Landwirtschaftspolitik.
*Michael Krawinkel ist Professor für Ernährung des Menschen mit Schwerpunkt Ernährung in Entwicklungsländern an der Justus-Liebig-Universität Giessen, Deutschland. Kontakt: Michael.Krawinkel@ernaehrung.uni-giessen.de.
Anmerkungen
Quellen