Von Andreas Wulf und Andreas Wulf
Es war eine Entschließung von historischer Dimension, die die Regierungen der Welt vor 40 Jahren, am 12. September 1978, in Alma-Ata in Kasachstan fassten. Sie verabschiedeten unter dem Motto „Gesundheit für Alle“ Leitlinien für die Gesundheitspolitik der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die zugleich auch den Maßstab an ihre eigenen Politiken legten: Das in der UN- Menschenrechtsdeklaration von 1948 wie auch in der WHO Verfassung im gleichen Jahr eingeforderte Recht auf gesunde Lebensbedingungen und gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen sollte auch in der Praxis realisiert werden.
„Gesundheit für Alle“ – so war die Deklaration von Alma-Ata überschrieben, der Weg dorthin sollte über die Primary Health Care (Basisgesundheitspflege), die PHC-Strategie, erreicht werden. Dabei ging es nicht um ein neues „Rezept“ für Armenmedizin, wie es viele sog. „entwickelte“ Staaten sogleich verstanden, sondern um eine viel grundsätzlichere Änderung, um ein neues Denken und ein neues Verständnis von Gesundheit, das weit über die Medizin hinausreichte. Es ging um das Recht aller auf das Höchstmaß individuell und kollektiv erreichbarer Gesundheit und eine Strategie zur Materialisierung dieses Rechts. „Eine funktionierende Primary-Health-Care-Strategie kann es nur geben, wenn sie im Rahmen des Werte-Systems von 'Gesundheit für Alle' erarbeitet wird“, so der 2016 mit 93 Jahren verstorbene ehemalige Generalsekretär der WHO Halfdan Mahler, unter dessen Ägide die Beschlüsse von Alma-Ata 1978 zustande kamen. Dieser Grundgedanke prägt die sozialmedizinische Arbeit von medico international und seiner Partner bis heute.
Und die PHC Strategie hat seit einigen Jahren wieder Aufwind. Denn es ist deutlich geworden, dass die Ein-Punkt-Kampagnen der globalen Gesundheitspolitik, zur „Ausrottung“ der Kinderlähmung, der Eindämmung von Malaria, sogar die beeindruckend erfolgreichen Programme zur Behandlung von inzwischen weltweit nahezu 20 Mio. Menschen mit HIV/AIDS zu scheitern drohen, wenn es nicht gelingt, die Gesundheitsfürsorge neu zu denken. Primary Health Care (PHC) in ihrem umfassenden Sinne ist zumindest auf der Ebene der Debatten wieder aktuell. Worum aber handelt es sich eigentlich?
Drei Grundprinzipien sind das Fundament des PHC-Ansatzes:
I. Politische und sozioökonomische Bedingungen haben wesentlichen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit und müssen Berücksichtigung finden, d.h. die Förderung von sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit ist eine notwendige Voraussetzung für Gesundheit.
II. Die Verbesserung von Gesundheit ist eine multisektorale Aufgabe und kann nicht vom Gesundheitssystem allein bewältigt werden – Trinkwasserversorgung, sanitäre Systeme, Wohnverhältnisse, Ernährungssicherung, Gewaltprävention sind zentrale Arbeitsfelder der Gesundheitsförderung, die kooperativer Lösungen ganz unterschiedlicher Akteure bedarf.
III. An der Verbesserung der Gesundheitsbedingungen und der Gestaltung der Gesundheitsdienste müssen die Betroffenen als Akteure beteiligt sein. Die Partizipation der Betroffenen, des Dorfes, der Gemeinde, der Nachbarschaft, beinhaltet einen respektvollen Umgang mit und die Nutzung von lokalem Wissen, Ressourcen und Erfahrungen, die Dezentralisierung von Entscheidungen und das Zur-Verfügung-Stellen von Mitteln zu ihrer Umsetzung.
Der PHC-Ansatz entmystifiziert das Expertenwissen und stärkt die lokalen Gesundheitspromotoren (Community Health Worker). Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Ausdehnung der PHC auf ländliche Gemeinden. Sie sind wesentlich in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Und ihnen kommt eine starke anwaltschaftliche und sozial mobilisierende Rolle zu. All dies bedroht das traditionelle hierarchische Modell der medizinischen Versorgung ebenso wie die lokalen Herrschaftsstrukturen. Hierin verbirgt sich eine Ursache dafür, dass der PHC-Ansatz zum Teil bis zur Unkenntlichkeit reduziert und letztlich nur punktuell in der Weltgesundheitspolitik umgesetzt wurde. Eines der wenigen positiven Beispiele für eine erfolgreiche Praxis war Nicaragua.
Das PHC-Konzept steht heute allerdings vor neuen Herausforderungen. In den 40 Jahren seit der Formulierung des Konzepts von Alma Ata hat sich die Stadt-Land-Verteilung der Weltbevölkerung tiefgreifend verändert. In den sog. Entwicklungsländern leben immer mehr Menschen in Städten: Waren es 1960 noch 22%, so waren es zur Jahrtausendwende bereits 40%; Für 2030 rechnet man mit einer städtischen Bevölkerung von 3,9 Milliarden.
Die sozialen und damit auch gesundheitlichen Unterschiede sind in den Städten ausgeprägter als im ländlichen Raum. Während die wohlhabenden Schichten von der nahen Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung deutlich profitieren, sieht es in den unregulierten Teilen der Städte ganz anders aus: Bei mangelhafter oder fehlender Infrastruktur, beengten, schlechten Wohnverhältnissen, ungesicherten Einkommen, gefährden die traditionellen Armutskrankheiten die Bewohner. Die Malaria und Dengue-Fieber übertragenden Mückenarten haben sich an die städtischen Verhältnisse adaptiert, neue Erreger wie SARS oder die Vogel-Grippe finden in den Städten mit vielen Menschen auf engem Raum optimale Verbreitungsmöglichkeiten. Die Wohngebiete der Armen befinden sich zudem in der Regel in besonders gefährdeten Gebieten, z.B. nahe an Industrieanlagen, deren Abwässer und Abgase starke Gesundheitsgefährdungen darstellen können, oder an steilen Hängen, die bei starken Unwettern zu dramatischen Katastrophen durch Erdrutsche führen.
Auch andere, weniger dramatische Stadtprobleme treffen die Armen mehr als die Reichen: die hohe Luftverschmutzung, Unfälle im Straßenverkehr, Lärm und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen führen zu chronischen Gesundheitsschäden. Schätzungsweise 20% aller Herz-Kreislauferkrankungen in den Städten werden auf solche spezifischen Umweltbedingungen in den Städten des Südens zurückgeführt. Auch die Veränderungen der Ernährungsweisen durch industrielle, auf Zucker, Salz, Kohlenhydrate und Fetten basierende Fertig Nahrungsmittel, ihre massive mediale Vermarktung und die durch Freihandelsabkommen geförderte Einfluss großer Supermarktketten hat ursächlich mit der „modernen Epidemie“ Fettleibigkeit und ihre Folgeschäden wie Diabetes zu tun. Statt um eine Wohlstandskrankheit handelt es sich hierbei gerade um Krankheiten der Armen, da traditionelle Nahrung, Frisches Obst und Gemüse in der Regel teurer und in den armen Vierteln sogar oft schwerer erhältlich sind als die Massenware.
Die spezifische Kombination aus „altbekannten“ Infektions- und Armutskrankheiten und „neuen“ chronischen Gesundheitsschäden wird auch als „doppelte Belastung“ (double burden) bezeichnet und ist charakteristisch für die Gesundheitssituation in den städtischen Zentren des Südens.
Standen beim historischen PHC Konzept vor allem öffentliche Gesundheitsdienste im Fokus, die die Gesundheitsversorgung für alle sicherstellen sollten, so hat sich auch in den vergangenen 40 Jahren das Bild hin zu einem sehr viel stärker durch private Gesundheitsdienstleister geprägten Bild verschoben. Nicht nur die Reichen und oberen Mittelklassen lassen sich von diesen versorgen, auch für viele Arme sind private Gesundheitsdienste gerade in städtischen Armutszonen die einzigen erreichbaren – mit katastrophalen Folgen: Jährlich fallen geschätzt 100 Mio Menschen durch hohe „out of pocket“ Ausgaben für Krankenbehandlung unter die Armutsgrenze, oft werden kleine Erfolge sich aus der Armut herauszuarbeiten, durch solche „life events“ wieder zunichte gemacht.
Deshalb hat sich in den letzten 10 Jahren die Diskussion von PHC stark in Richtung auf „Universal Health Coverage“ verschoben, (dies auch unter den Diskussionen zu den neuen globalen Nachhaltigen Entwicklungszielen) ein nicht unproblematisches Konzept, mit dem vor allem auf diese Finanzkatastrophen für arme Haushalte reagiert werden soll. Die konkrete Umsetzung eines Einschlusses gerade der Ärmsten in solche lokalen oder auch nationalen „Versicherungssysteme“, bei der eine Vielzahl von öffentlichen, privaten und gemeinnützigen Praxen, Kliniken und Krankenhäusern ihre Kosten in Rechnung stellen können, erscheint auf den ersten Blick pragmatisch weiterführend, die Erfahrungen mit solchen Versicherungssystemen in Ländern des Südens ohne starke regulierende Rolle des Staates zeigen aber, dass es sich hier oftmals eher um Finanzierungsprogramme für die privaten Anbieter handelt und die Qualitätskontrolle schwierig bleibt.
Aus diesem Grund sind Akteure wie das People’s Health Movement äußerst kritisch und setzen weiterhin auf ein funktionierendes öffentliches Gesundheitswesen, dass seinem Anspruch, für alle BürgerInnen gute Gesundheitsversorgung zu sichern, auch gerecht wird.
Wurde das PHC-Konzept häufig als eine Strategie für Entwicklungsländer und speziell zur Versorgung der armen Bevölkerung verstanden, so stellt der Anspruch der WHO, Gesundheit im weiten Verständnis als soziales, psychisches und körperliches Wohlbefinden und als menschenrechtliche Garantie zu begreifen, auch erhebliche Herausforderungen an die „entwickelten Länder“. Eine Reformulierung des PHC-Konzepts mit Blick auf die Industrieländer wurde mit der Ottawa-Charta 1986 vorgenommen, in der der Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten und die Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten als Hauptaufgabe der Gesundheitspolitik benannt wurde. Doch in Deutschland ist es bis heute nicht gelungen, gegen die Interessen des traditionellen Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik ein „Präventionsgesetz“ einzuführen, mit dem diesen Überlegungen Rechnung getragen würde. Und das, obwohl die langfristige Finanzierung solcher gesundheitsförderlicher Initiativen mit einem Bruchteil der für die kurative Medizin verfügbaren Mittel möglich wäre.
Dabei wären Initiativen zur Förderung einer „Gesundheit für Alle“ ohne Zweifel von großer Bedeutung und sollten über den Status von Pilotprojekten und Einzelinitiativen mit zeitlich begrenzter Förderung hinausgehen: Tatsächlich existiert weiterhin soziale Ungleichheit in der Gesundheits- und Lebenserwartung je nach sozialer Schicht in Deutschland. Hinzu kommt als vielleicht drastischste aktuelle Verletzung des Menschenrechts auf Gesundheit die Einschränkung und Verweigerung medizinischer Versorgung für Asylbewerber und illegalisierte Flüchtlinge. Auch hier bleibt das Engagement etwa der bundesweiten über 30 Büros und Netze für medizinische Flüchtlingshilfe wegweisend, die sich nicht damit begnügen, ehrenamtlich „Behandlungspfade“ für Papierlose in das Gesundheitswesen zu vermitteln, sondern die aktiv für einen „anonymen Krankenschein für alle“ eintreten, der die Diskriminierung und die Gefahr, von den Krankenhäusern an die Ausländerbehörden gemeldet zu werden, bei der Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung zu beenden.
Erstveröffentlichung am 27. Februar 2018 durch medico international. Link zum Orginalartikel. Anmerkung: Der Abdruck und die Kürzung des Textes erfolgte durch die MMS Bulletin Redaktion mit freundlicher Genehmigung von medico international.