Von Edgar Widmer
Im September 1978 beschlossen die Teilnehmerstaaten und die Weltgemeinschaft in der Erklärung von Alma-Ata, die Notwendigkeit dringender Massnahmen zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit aller Menschen. Auf der Grundlage des Menschenrechts auf Gesundheit sollte weltweit ein Höchstmass an Gesundheit und sozialer Gerechtigkeit erreicht werden. Als Teilnehmer von Medicus Mundi International (MMI) war Edgar Widmer entschlossen, die Schlussfolgerungen von Alma-Ata unter den Mitgliedsorganisationen von MMI zu verbreiten und sie dazu zu bewegen, ihre Arbeitsweise zu ändern. Gleichzeitig sollten die Partner im Süden davon überzeugt werden, ihre Strategien entsprechend neu auszurichten. Edgar Widmer berichtet.
Entscheidend für die Änderung unseres Denkens war die Bandung Konferenz im Jahre 1955. Damals hatten 29 blockfreie Staaten das Ende der Kolonialzeit angesagt. Mit dem Rückzug der Kolonialärzte entstand im Gesundheitswesen vieler Länder eine grosse Lücke, welche später Medicus Mundi International (MMI) durch Entsendung von Ärzten zu begegnen versuchte. Zunächst waren es jedoch vor allem Ärzte aus Holland, die in Indonesien ihre anfänglichen Erfahrungen mit kurativer und karitativer Tätigkeit in Frage stellten und feststellen mussten, dass sich trotz ihres Einsatzes der Gesundheitszustand der Bevölkerung nur gering verbesserte. Die Erkenntnis, dass Armut, Ungleichheit im Zugang zu Gesundheitsdiensten sowie Unkenntnis über Ursachen von Krankheiten daran schuld waren, führte zu einem Paradigmenwechsel: zur Umkehr der „Pyramide der Gesundheitsdienste“. Ihre Spitze entspricht in der westlichen Medizin den Universitätsspitälern, wo mit viel Geld, relativ wenigen geholfen wird, während die breite Basis der Pyramide, der heutigen hausärztlichen Versorgung entspricht, wo mit verhältnismässig wenig Geld, viele versorgt werden müssen.
Statt sich in den Hauptstädten auf die Spitzenmedizin zu konzentrieren, sollte nun eine flächendeckende Betreuung angestrebt werden. Das Modell von der umgedrehten Pyramide (siehe Graphik) war der Ansatz für Fragen, welche das Konzept der Primary Health Care (PHC) aufwarf. Unter anderem die ethische Frage, ob man bei beschränkten Mitteln weiterhin 45% in die Behandlung von 1% der Bevölkerung einsetzen darf.
Als im Juli 1962 die Internationale Förderation der Katholischen Ärzte in London zusammentraf und u.a. darüber diskutierte, welche Rolle westliche Ärzte in Entwicklungsländern spielen sollten, entstand die Idee, eine Organisation für internationale medizinische Zusammenarbeit ins Leben zu rufen. Wenige Monat später, im Jahr 1963 wurde Medicus Mundi International gegründet. Unsere Vision war es, vor allem professionelle medizinische Hilfe zu leisten, um die Gesundheit der bedürftigsten Bevölkerungsgruppen in den Ländern des Südens zu verbessern.
Während dieser Zeit, Anfang der sechziger Jahre hatte ich in Tansania die Möglichkeit, als junger Schweizer Arzt einen Austausch zwischen Peripherie und Spital in die Wege zu leiten. Das im Südwesten des Landes gelegene Missionsspital von Ifakara war während meines Einsatzes Referenzzentrum für eine Reihe von medizinischen Aussenposten. Ich besuchte 1964 jede einzelne Gesundheitsstation, diskutierte mit den verantwortlichen Hilfspflegern (Rural Medical Aids) über ihre Bedürfnisse und Nöte und machte mir ein Bild über Einrichtungen, Medikamentenvorrat und diagnostische Möglichkeiten.
Bald war klar, was den „Rural Medical Aids“ fehlte: Eine Supervision durch das Spital, in welches sie jene Kranke überwiesen, denen sie nicht zu helfen vermochten. In Absprache mit der Spitalleitung wurden daraufhin im Turnus eines Jahres für diese Medical Aids Fortbildungskurse organisiert. Ausserdem sollten in Zukunft PatientInnen nicht ohne ein Überweisungsschreiben im Spital eintreffen und bei Entlassung sollten die Medical Aids einen Austrittsbericht vom Spital erhalten. Dieses Vorgehen ermöglichte einen fortlaufenden Lernprozess für beide Seiten. Im Jahre 1987 fand dieses Konzept in der Internationalen Konferenz zum Thema Distrct Health Concept eine Bestätigung.
Auf internationaler Ebene begann 1968 Prof. H.A.P.C. Oomen, Leiter des Amsterdamer Tropeninstituts und Gründer von Memisa-Medicus Mundi-Holland unter dem Label von Medicus Mundi International mit der Publikation von Conceps, einer Reihe von kleinen Schriften, in welchen er Erfahrungen und Rückmeldungen von MM-Ärzten sammelte. Es waren Erfahrungen mit Pioniercharakter in Bezug auf Primary Health Care (PHC). Sie erschienen in grosser Auflage in englischer, französischer und portugiesischer Sprache.
Ab 1970 veranstaltete MMI gleichzeitig mit seinen Jahresversammlungen, Tagungen zum Erfahrungsaustausch über den neuen Ansatz im Kampf gegen armutsbedingte Krankheiten. An diesen Veranstaltungen nahm ein zahlreiches Publikum mit Vertretern der Gesundheitsministerien jener Länder teil, in welchen MMI-Ärzte im Einsatz waren. Die Ergebnisse der Diskussionen wurden im Buch: „North-South Dialogue and Health“ (KARTHALA, Paris) zusammengefasst.
Dr. Halfdan Mahler, der General-Direktor der WHO, bestätigte damals, anlässlich der Präsentation dieser Schrift: “MMI’s new approaches were a stimulus to the evolution of primary health care, thought and practised as part of concerns within the organisation“.
Ein halbes Jahr vor der Alma-Ata Konferenz in Halifax war MMI an der Erarbeitung eines Positionspapiers zum Thema Non-Governmental Organisations and Primary Health Care beteiligt. Als neuer Präsident und Abgesandter von Medicus Mundi International flog ich dann auch als Vertreter, von einer der nur 56 teilnehmenden NGO’s (an der Weltfrauenkonferenz Peking 1995 waren es über 1500 NGO’s) zur Konferenz nach Alma-Ata. Die offizielle Schweizerdelegation bestand aus Dr. Ulrich Frei, Direktor des Eidgenössischen Gesundheitsamtes, Immita Cornaz, der Vertreterin der DEZA, dem Kantonsarzt der Waadt, Dr. Martin und Dr. Irniger, Vertreter der Vereinigung der Allgemeinpraktiker. Mit dieser Gruppe, aber vor allem mit den anderen NGO-Vertretern, gab es einen sehr guten Erfahrungsaustausch, der es nach der Heimkehr ermöglichte, gemeinsam die Alma-Ata Beschlüsse zu interpretieren, zu erproben und umzusetzen. Für mich persönlich waren die Beschlüsse eine Bestätigung unserer Vision von Entwicklungszusammenarbeit, d.h. Einsatz dort, wo Armut, Unwissenheit und Krankheit am häufigsten vorkommen.
"MMI’s new approaches were a stimulus to the evolution of primary health care, thought and practised as part of concerns within the organisation“ Dr. Halfdan Mahler, General-Direktor der WHO
Hochmotiviert von der Konferenz machte ich mich an die Arbeit! Als neuer Präsident von MMI und Vorstandsmitglied, der 1974 gegründeten NGO „Medicus Mundi Schweiz“ wollte ich vor allem folgendes umsetzen:
Damals konnte ich noch nicht erahnen, welche Aufgabe ich mir und meinen Mitstreitern, mit all diesen Vorsätzen, für die kommenden Jahrzehnte aufgeladen hatte.
Die Spitex ist ein Beispiel dafür wie in der Folge von Alma Ata in der Schweiz PHC umgesetzt worden ist.
In ihrer Konferenz von Alma Ata hat die WHO im Jahr 1978 darauf aufmerksam gemacht, dass der Abstand zwischen Reich und Arm zunimmt und dass die Arbeitslosigkeit zum weltweiten Problem wird. Aus diesem Grund brauchte es zur Förderung von Gesundheit koordinierte Initiativen im sozialen Bereich, in der Wirtschaft, in der Politik und im kulturellen Sektor. Der Einsatz dafür erfordert Methoden, die praktisch, wissenschaftlich erprobt, einfach und sozial akzeptabel waren und auf der Eigenverantwortung der Menschen aufbauten. Auf diesen Erkenntnissen beruhte das in der Erklärung von Alma Ata festgehaltene Konzept der Primary Health Care (PHC). Die Schweizer Delegation, welche in Alma Ata teilgenommen hate, fragte sich, ob die Beschlüsse nur für unsere Entwicklungszusammenarbeit gelten, oder ob nicht auch in unserem Land neue Strategien anzuwenden seien.
Nach der Konferenz beschlossen die TeilnehmerInnen der Alma-Ata Delegation, inklusive ich selbst und Toni Ebner von SolidarMed und Immita Cornaz von der DEZA sowie der Präsident der Verbindung der Schweizer Ärzte FMH, zwei Kantonsärzte und u.a. die Leiterin der schweizerischen Pflegerinnenvereinigung, die Ergebnisse in einer kleinen, ad hoc zusammengesetzten Arbeitsgruppe zu analysieren und ein schweizerisches Konzept der primären Gesundheitsversorgung zu erarbeiten. Die Gruppe fand im September 1979 für eine Woche in Sörenberg zu einer Klausurtagung zusammen.
Der Ist-Zustand des Schweizerischen Gesundheitswesens wurde kritisch analysiert: Koordination und Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsdiensten und verschiedenen Gesundheitsberufen seien ungenügend. Hilfesuchende hätten keinen direkten Zugang zu Sozialdiensten und zu ambulanten Pflegediensten. Zudem sei die Krankenversicherung im sozialen Bereich nicht leistungspflichtig. Die meisten Sozialdienste seien vertikal angelegt und auf ein spezifisches Problem angelegt wie Alkohol, Drogen, Tuberkulose, Rheuma, Krebs etc. Eigentliche integrierte Dienste würden fehlen oder bildeten die Ausnahme. Bei der Ausbildung der Ärzte würden der psycho-soziale Bereich und Aspekte der Prävention und der Gesundheitsförderung zu wenig berücksichtigt. Schon damals wurde vom überdimensionierten Bettenangebot der Spitäler gesprochen. Postuliert wurde der Ausbau der spitalexternen, ambulanten Krankenpflege.
Das Konzept der primären Gesundheitsbetreuung in der Schweiz wurde im Juni 1980 von der Schweizerischen Sanitätsdirektorenkonferenz, der FMH und dem Bundesamt für Gesundheitswesen verabschiedet und Bund und Kantonen zu einer breit angelegten Vernehmlassung übergeben. Ein konkretes Resultat des daraus entstandenen Prozesses sind die Spitex Organisationen, die in der ganzen Schweiz realisiert wurden.
Schon in Halifax, hat, wie oben erwähnt, eine Gruppe von NGO’s mit dem Positionspapier Vorarbeit für die Alma-Ata Konferenz geleistet. Unmittelbar nach der Konferenz haben sich eine europäische und eine amerikanische NGO-Gruppe zur Umsetzung der Alma Ata Deklaration zusammengefunden. Die 24 europäischen NGO’s nahmen sich vor, die Koordination unter den NGO’s zu verbessern und sich gemeinsam innerhalb der WHO und innerhalb einzelner Länder einzubringen. Medicus Mundi International hat sich mit Hilfe seines Mitglieds CORDAID-Holland, vor allem für die Koordination der kirchlichen Gesundheitsdienste (Christian Health Associations, CHA’s) eingesetzt. Auch MMS hat geholfen, deren Büros einzurichten und einheimische Kollegen für die Leitung dieser Stellen in Public Health auszubilden. Unsere Empfehlungen flossen so bis weit in die Peripherie und gleichzeitig erhielten wir wertvolle Informationen vom Grass-Root-Level.
Im Grunde genommen ist das PHC-Konzept revolutionär. Politiker und auch Kirchenleute sehen sich jedoch lieber im Glanz eines grossen Spitals, als auf Fotos vor einem einfachen Gesundheitszentrum. Das Konzept der Partizipation und die neue Rolle der mit Alma-Ata geförderten Zivilgesellschaft schürten die Angst der Despoten vor demokratischen Prinzipien. Überall, wo Geld und Macht im Spiel ist, besteht die Gefahr, dass das Allgemeinwohl übergangen wird. Trotzdem, ja trotzdem, hat PHC Fuss gefasst; vor allem dort, wo in der Ausbildung des Gesundheitspersonals die Grundlagen dazu gelegt worden sind und dort, wo eine entsprechende nationale Gesundheitspolitik definiert worden ist. Heutzutage spielt zudem die Zivilgesellschaft eine bedeutende Rolle im Herbeiführen von entsprechenden Veränderungen. Für MMI ist die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Initiativen in den letzten Jahren ja zur Kernaufgabe geworden.
Ich bin bis heute vom PHC-Ansatz überzeugt. Davon zeugt nicht nur die lange Liste der Tagungen, die wir in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf Health for All und PHC abhielten (siehe Kasten), sondern auch folgendes Foto: Das Bild zeigt mich (links) gemeinsam mit Dr. Vim van Lerberghe (rechts), anlässlich der MMS Tagung vom 8. November 2008 in Basel. Genau 20 Jahre vorher, als van Lerberghe noch Assistent am Tropeninstitut von Antwerpen war, konnten wir ihm aus dem Edgar-Widmer-Fonds sein damaliges Buch über PHC sponsern. An der MMS Tagung von 2008 präsentierte er den in seiner Verantwortung geschriebenen World Health Report 2008 mit dem Titet Primary Health Care more than ever.
MEDICUS MUNDI KONFERENZEN |
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Zusammen mit Vorstandsmitgliedern, mit den Mitgliedorganisationen und mit anderen Institutionen sowie mit vielen Fachleuten hat Medicus Mundi immer wieder Aspekte von Health for All und PHC diskutiert. Die Liste der Veranstaltungen ist lang, die Orte geographisch weit verteilt und die Finanzierungssorgen waren enorm. Für mich aber nicht nur viel Mühe und Arbeit, sondern auch Erinnerungen an grossartige Kollegen und liebgewordene Freunde. |
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