Die Auswirkungen von HIV Behandlungsprogrammen auf ländliche Gesundheitssysteme

„Host and Parasite?“

Von Thomas Gass und Jochen Ehmer

SolidarMed als Initiantin eines vertikalen Programms? Was hat die Organisation durch das Programm SMART zur Einführung der Aids-Behandlung in acht ländlichen Distrikten des südlichen und östlichen Afrikas gelernt? Reflexionen darüber, wie ein vertikales Programm horizontal in den Gesundheitssystemen verankert werden kann.

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Im September dieses Jahres veranstaltete die London School of Hygiene and Tropical Medicine ein Symposium zum 30-jährigen Jubiläum der Erklärung von Alma-Ata. Thema der Konferenz war die Relevanz primärer Gesundheitsversorgung im Zeitalter der UN-Millenniumsziele (MDGs). In der Diskussion über globale Gesundheitsinitiativen und krankheitsspezifische Programme machte ein Referent aus Uganda die Aussage, vertikale Programme seien Parasiten, die sich dem Wirt – dem lokalen Gesundheitssystem – anhängen, ihn schwächen und letztlich mit ihm kollabieren werden.

Vertikale Programme zeigen rasche und überprüfbare Resultate. Welchen Einfluss sie auf andere Sektoren der Gesundheitssysteme ausüben, ob sie qualitativ konsistent und nachhaltig durchführbar sind, ist jedoch umstritten.

Im Jahre 2004 startete SolidarMed das Programm SMART (SolidarMed Antiretroviral Treatment) zur Einführung der Aids-Behandlung in acht ländlichen Distrikten des südlichen und östlichen Afrikas – auf den ersten Blick ein typisch vertikales Programm. Wir möchten darlegen, was SolidarMed gelernt hat über Wirte und Parasiten und über die Auswirkungen eines vertikalen Programms auf die Distriktgesundheitssysteme.

Gesundheit und Systeme: Chance oder Krise?

Gesundheit ist ein wesentlicher Faktor für Entwicklung, Krankheit ist ein deutlicher Indikator für Armut. Als sich die Vereinten Nationen im Jahr 2000 auf acht Entwicklungsziele einigten, um Armut und soziale Ungleichheit zu bekämpfen, erhielt die Gesundheit einen herausragenden Stellenwert: Drei der acht Ziele beziehen sich direkt darauf.

Der kürzlich erschienene Bericht zum Stand der Millenniumsziele zieht Bilanz:

Die guten Nachrichten:
1. Zwischen 2000 und 2005 hat sich die Zahl der Kinder, die jährlich in Afrika an Masern sterben, um drei Viertel von 506'000 auf 126'000 reduziert. Die Impfrate beträgt heute durchschnittlich 72% (1990: 56%). (United Nations / African Union 2008)
2. Dank der Ausdehnung der Aids-Behandlung in Afrika konnte die jährliche Zahl der Todesopfer von 3.9 Mio. (2002) auf 2 Mio. (2007) reduziert werden. (UN General Assembly 2008)
3. Die Benutzung von mit Insektizid behandelten Moskitonetzen zur Vorbeugung von Malaria hat sich in 8 von 10 afrikanischen Ländern seit 2000 verdreifacht. (UN MDG Report 2008)

Die schlechten Nachrichten:
1. Afrika südlich der Sahara ist weit vom Ziel entfernt, die Kindersterblichkeit auf ein Drittel des Niveaus von 1990 zu reduzieren. Noch heute sterben 157 von 1000 lebend geborenen Kindern in den ersten fünf Lebensjahren an einer der folgenden fünf Krankheiten: Malaria, Durchfall, Masern, Lungenentzündung und HIV/Aids – meist in Kombination mit Unterernährung. In dreizehn afrikanischen Ländern hat sich die Gesundheit von Kleinkindern seit 1990 sogar verschlechtert. (UN MDG Report 2008)
2. Die Müttersterblichkeit ist seit 1990 in Afrika praktisch unverändert hoch geblieben. Noch heute sterben in Afrika 900 von 100'000 Müttern aufgrund von Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt (1990: 920). Nur 47% der Geburten finden unter Begleitung einer professionellen Fachkraft statt (1990: 42%). (UN MDG Report 2008)
3. Jeden Tag infizieren sich weltweit 7000 Menschen mit dem HI-Virus. 76% der weltweit 2.1 Mio. Aids-Todesfälle ereignen sich in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Zwar stehen in Afrika heute 2.3 Mio. Menschen unter antiretroviraler Behandlung, dies sind jedoch nur 30% all derer, die diese lebensrettende Therapie dringend benötigen.

Die Milleniumsziele haben eine historisch einmalige Kampagne gegen Armut und eine massive Aufstockung der internationalen Hilfsgelder bewirkt. Angeführt von den „grossen acht“ (GFATM, UNFPA, GAVI, UNAIDS, UNICEF, WHO, World Bank, Gates Stiftung) unterstützen inzwischen über 130 multi- oder bilaterale Organisationen krankheitsspezifische Programme in bestimmten Gesundheitssektoren (Tuberkulose, Impfen, Malaria, Flussblindheit etc.). Die für Gesundheit verfügbaren Finanzmittel sind zwischen 2000 und 2005 um 8 Mrd. US-$ von 6 auf 14 Mrd. US-$ angestiegen. Davon waren jedoch mehr als die Hälfte für den Kampf gegen HIV/Aids vorgesehen. (UNAIDS Report 2006; Banati, Moatti 2008)

Die internationale Aufmerksamkeit für HIV/Aids war und ist berechtig. Sie hat jedoch den Blick verdeckt auf den prekären Zustand vieler Gesundheitssysteme. Die unverändert hohe Müttersterblichkeit beispielsweise ist nicht nur ein Hinweis auf die Gesundheitschancen von Frauen. Sie ist auch ein verlässlicher Indikator für den allgemeinen Zustand eines Gesundheitssystems.

Und auch die Schwierigkeiten bei der Ausweitung der HIV-Behandlung zeigen: Was fehlt, ist vor allem ein stabiles Fundament aus Infrastruktur, Personal, Überweisungssystemen, Nachschubketten …. – ein Fundament, das in der Lage ist, vertikale Programme langfristig zu tragen. Dieses Fundament ist das Gesundheitssystem und vieles deutet darauf hin, dass die Gesundheitskrise in Afrika in erster Linie eine Krise der Gesundheitssysteme ist. (Reich et al. 2008)

Auf zwei wichtige Merkmale dieser Systemkrise wollen wir kurz eingehen:

Die Finanzierung: Marktwirtschaftliche Entwicklungskonzepte führten in den 90er Jahren in Afrika zu einer empfindlichen Senkung der öffentlichen Gesundheitsausgaben. Afrikanische Länder wendeten damals durchschnittlich 3% der Staatsausgaben für Gesundheit auf (Global Health Watch 2005-2006). Gleichzeitig mit der Senkung öffentlicher Gesundheitsausgaben führten viele Regierungen sogenannte cost-sharing-Modelle ein. Die Erhebung von Benutzergebühren erwies sich jedoch vor allem für arme Bevölkerungsgruppen mit knappem Haushaltseinkommen als neues Hindernis im Zugang zur Basisversorgung. Uganda schaffte die Gebühren im Jahre 2001 wieder ab, die Benutzung von Gesundheitsdiensten stieg seither von 58% auf 70% (Xu et al 2006). Angesichts der negativen Auswirkungen der marktorientierten Politik der 90er Jahre und der Ausbreitung von HIV/Aids verpflichteten sich die Regierungen der Afrikanischen Union im Jahre 2001 mit der Abuja-Erklärung auf eine Erhöhung der staatlichen Gesundheitsausgaben auf 15% des Staatshaushaltes. Nur Botswana und Gambia haben diese Zielmarke erreicht. Der Anteil liegt heute bei durchschnittlich 9%.

Die verschiedenen Modelle zur Finanzierung von Gesundheitskosten sind bis heute umstritten. Während Rwanda mit einer verpflichtenden Krankenversicherung („mutuelle“) das Gesundheitsbudget erhöht und auch die Armen zur Kasse bittet, wählen andere Länder wie Moçambique den Weg einer weitgehend kostenlosen Gesundheitsversorgung – zum Preis einer über 90%igen Geberabhängigkeit.

Das Gesundheitspersonal: Afrika südlich der Sahara trägt ein Viertel der weltweiten Krankheitslast („global burden of disease“), verfügt aber nur über 3% des weltweiten Gesundheitspersonals (McKinsey Quarterly 2007). Die Beratungsfirma McKinsey rechnet in Afrika mit einem Bedarf von 820'000 zusätzlichen Gesundheitsangestellten, nur um die Basisversorgung zu gewährleisten. Um die Millenium Entwicklungsziele zu erreichen, müssten die afrikanischen Länder die Zahl ihrer Gesundheitsangestellten um durchschnittlich 140% erhöhen. Moçambique beispielsweise hat nun einen ehrgeizigen Aufstockungsplan für Gesundheitspersonal vorgelegt, unklar ist noch wie der Plan finanziert werden soll. Einer der bestimmenden Faktoren für die Personalnot ist der „brain drain“, das Abwandern von Gesundheitspersonal in den Norden. Bis 2020 werden alleine im Gesundheitssystem der USA 800'000 Pfleger und 200'000 Ärzte fehlen. Von den 600 Ärzten, die in Sambia seit der Unabhängigkeit ausgebildet wurden, arbeiten heute nur 50 im eigenen Land. In Manchester gibt es mehr malawische Ärzte als in Malawi. In Malawi sind deshalb nur 10% der Ärztestellen und 40% der Pflegerstellen besetzt. (The Health Workforce in Africa 2006)

Globale Initiativen: Vertikale Interventionen und Systemstärkung

Um die Verdienste und die Berechtigung vertikaler Programme im Bereich HIV/Aids zu beurteilen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Epidemie für Afrika nicht nur ein Gesundheitsproblem darstellt, sondern eine humanitäre Katastrophe mit fatalen Wirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die Halbierung der Aids-Todesopfer zwischen 2002 und 2007 in Afrika ist das Verdienst der historisch einmaligen Kampagne in diesem Bereich. Das gleiche gilt für die globale Kampagne zur Bekämpfung der Malaria, eine Krankheit die auch heute noch mehr als 1 Mio. Menschen pro Jahr das Leben kostet.

Sicher ist: Vertikale und HIV-spezifische Programme erzielen gute Resultate und können zur Stärkung von Gesundheitssystemen beitragen. (Wafaa et al., 2007; Farmer et al., 2007)

Trotz dieser Erfolge stehen die globalen Initiativen in der Kritik, ihr Beitrag zur Stärkung der Gesundheitssysteme ist umstritten. Es gibt negative Begleiterscheinungen, von denen insbesondere die folgenden drei kritisiert werden:

1. Krankheitsspezifische Programme unterliegen globalen, zeitlich begrenzten thematischen Trends, die nicht immer den lokalen Bedürfnissen entsprechen: In Afrika gehen 46% der direkten Geberfinanzierung in den Bereich HIV/Aids, obschon die Krankheit durchschnittlich „nur“ 30% der Krankheitslast ausmacht. Zum Vergleich: 2.5% der direkten Geberfinanzierung stehen in Bezug zu Lungenerkrankungen, die wiederum über ein Viertel der Krankheitslast verursachen (De Maeseneer 2008). In Sambia gehen 90% der Hilfsgelder in krankheitsspezifische Programme: Das staatliche Gesundheitsbudget betrug im Jahre 2006 136 Mio. US-$, während die US-Regierung parallel dazu alleine im Bereich HIV/Aids 150 Mio. US-$ investierte. In Tansania sind 95% des nationalen HIV/Aids-Programms von internationalen Gebern finanziert.

2. Vertikale Programme neigen dazu, das ohnehin knappe Gesundheitspersonal für spezifische Projekte und Dienstleistungen zu absorbieren. Ein besonders fataler Trend ist nicht zuletzt der Abzug von Gesundheitspersonal aus öffentlichen Gesundheitsdiensten in – wiederum nicht selten konkurrierende – internationale Programme, wo einheimische Mediziner für ein Vielfaches des Lohnes in administrativen Jobs Gesundheitsprojekte verwalten. Eine der Initiativen, die diesem Problem entgegensteuern sollen, ist ein „code of practise on the recruitment of health personnel“, der von der WHO zur Zeit vorbereitet wird. (vgl. “Public hearings on the draft code of practice on the international recruitment of health personnel” In: http://www.who.int/hrh/public_hearing/en/index.html Nov 15th 2008)

3. Vertikale Programme führen zu Doppelspurigkeiten und schwächen die Kapazitäten der Gesundheitsbehörden, weil sie ein separates Projektmanagement und parallele Strukturen einführen (z.B. im Berichtswesen, Monitoring, Finanzverwaltung). Gemäss einer Studie von McKinsey verbringt ein Distriktarzt in Tansania 100 Tage pro Jahr fürs Schreiben von Berichten (McKinsey Quarterly 2007). Zudem sind die administrativen Kompetenzen und Ressourcen oft einfach nicht vorhanden, um die Gelder auf Distriktebene transparent einzusetzen.

Inzwischen scheint die Kritik angekommen zu sein. WHO, Regierungen und globale Gesundheitsinitiativen sind sich darüber einig, dass vertikale Programme nur dann erfolgreich sein können, wenn gleichzeitig Innovationen und substantielle Investitionen an der Basis der Gesundheitssysteme getätigt werden.

Unter dem Titel „PHC – now more than ever“ legte die WHO in ihrem kürzlich erschienenen Weltgesundheitsbericht Vorschläge für eine grundlegende Reform der Gesundheitszusammenarbeit vor. Gleichberechtigter Zugang zu nachfrageorientierter Prävention und primärer Gesundheitsversorgung soll diesen Anstrengungen als einigendes Konzept zugrunde liegen. Die WHO-Direktorin Margaret Chan schrieb kürzlich in der Zeitschrift Lancet: “Primary health care increasingly looks like a smart way to get health development back on track.”

Aber nicht nur bei der WHO, auch bei anderen großen Gebern scheint ein Umdenken stattzufinden. Der GFATM diskutiert seine Umwandlung in einen weltweit tätigen sektorübergreifenden Gesundheitsfund, bilaterale Geber unternehmen Initiativen wie die „International Health Partnership“ oder die kürzlich abgehaltene Konferenz von Akkra, um über die Harmonisierung ihrer Programme zu beraten.

Ein konkreter Vorschlag kommt auch von der NGO-Kampagne 15by2015. Sie fordert die Umwidmung von 15% der Budgets selektiver Programme in die Basisversorgung.

Das Beispiel SMART

SolidarMed initiierte im Jahre 2004 das Programm SMART, die Einführung und Integration antiretroviraler HIV-Behandlung in acht Projektgebieten in Tansania, Moçambique, Lesotho und Simbabwe. Im Zentrum der Projekte stehen hierbei die jeweiligen Partnerspitäler von SolidarMed. Es handelt sich um ein krankheitsspezifisches Programm mit deutlich vertikaler Ausrichtung. SolidarMed hatte sich von Beginn an verpflichtet, die Umsetzung nach den folgenden, diagonalen Prinzipien zu gestalten:

- Kein Aufbau separater Strukturen sondern Integration in das Distrikt-Gesundheits-System
- Komplementäre Unterstützung nationaler HIV-Programme
- Dezentralisierung der Versorgung unter Einbezug peripherer Gesundheitszentren
- Verankerung in den Gemeinden und Förderung von Komponenten zur HIV-Vorbeugung
- Flexible Budgetverwendung für systemstärkende Investitionen
- Programmatische Integration in die jeweiligen SolidarMed-Länderprogramme

Mit Unterstützung des Programms liessen sich bis Juni 2008 rund 64'000 Menschen auf HIV testen. Bis heute stehen mit Unterstützung von SMART an acht Standorten 3500 Patienten unter Behandlung. 76% derjenigen, die mit der Behandlung begonnen haben, sind immer noch unter Therapie. Der Rest der Patienten ist entweder verstorben, weggezogen oder aus anderen Gründen aus dem Programm ausgeschieden. Zu den durchschnittlichen Jahreskosten eines behandelten HIV-Patienten in Afrika von rund 1500 US-$ trägt SolidarMed rund 600 US-$ bei. Ein Aids-Patient ohne Behandlung würde das Gesundheitssystem wegen der hohen Folgekosten das Doppelte kosten: jährlich 3520 US-$ (Badri et al. 2005).

SolidarMed bewegt sich mit dem von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) sowie dem Liechtensteinischen Entwicklungsdienst (LED) mitfinanzierten Programm SMART bis heute im Spannungsfeld zwischen vertikaler Intervention und horizontaler Systemstärkung. Zwar verfolgt das Programm einen diagonalen Ansatz und integriert systemstärkende Massnahmen wo immer möglich. Das Monitoring aber bezieht sich auf die direkten Resultate, wie zum Beispiel die Anzahl der behandelten Patienten. Die breiteren Auswirkungen von SMART auf das Gesundheitssystem wurden bisher nicht systematisch gemessen.

Das Programm befindet sich jetzt in der Phase der Dezentralisierung, d.h. die Patienten werden auch in den peripheren Gesundheitseinrichtungen bei der Behandlung begleitet. Um Menschen mit einer chronische Erkrankung wie HIV auch in der Peripherie zu versorgen, sind jedoch gewisse Voraussetzungen nötig: Genügend Personal, angemessene Infrastruktur, regelmässige Supervision, funktionierende Nachschubketten und abrufbereite Transportmittel sind einige davon. Nur robuste Gesundheitssysteme können dies gewährleisteten. SolidarMed denkt deshalb darüber nach, wie die Synergien zwischen HIV-spezifischen Interventionen und Systemstärkung noch besser genutzt werden könnten.

Ein hilfreiches Instrument hierzu wäre die Einführung eines lokalen „Health System Impact Monitoring“ (http://www.who.int/healthinfo/statistics/toolkit_hss/en/index.html). Ein solches Instrument würde auch dazu dienen, unbeabsichtigte negative Auswirkungen des Projekts im Sinne des „do no harm“- Gedankens frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Dabei gibt es jedoch noch offene Fragen: Mit welchen Indikatoren lassen sich Qualität, Robustheit und Performance eines Gesundheitssystems am Besten messen? Welche Indikatoren können länder- und situationsübergreifend verglichen werden? Gibt es Unterschiede in der Relevanz auf Distrikt-, Provinz- und nationaler Ebene? Wie können Indikatoren einfach und kostengünstig erhoben werden?

Während SolidarMed nach Antworten auf diese Fragen sucht und die Einführung eines solchen Instrumentes prüft, lassen sich jedoch schon jetzt einige Aussagen machen:

Gesundheitsdienstleistungen: Das SMART Programm hat einen substantiellen Beitrag zur Verbesserung der Infrastruktur der Partnerspitäler geleistet („bricks and mortar“). Gesundheitssysteme und Patienten profitieren von zusätzlichen Gebäuden, Transportmitteln und besser ausgerüsteten Labors und Apotheken. Schulungen und unterstützende Supervision haben zu einer breiten qualitativen Verbesserung der klinischen Praxis geführt, insbesondere in den Bereichen Tuberkulose sowie – nach Einführung integrierter WHO Behandlungsrichtlinien – zu einer Aufwertung der Pädiatrie.

Die Behandlung von HIV geht jedoch auch mit neuen Herausforderungen einher: Spitäler müssen den massiven Zustrom neuer Patienten für die HIV-Behandlung ohne zusätzliches Personal bewältigen. Die gezielte Unterstützung von Personal in den HIV-Kliniken kann zu Konflikten in den Pflegeteams führen. Es besteht die Gefahr, dass qualifizierte Mitarbeiter von projektadministrativen Aufgaben absorbiert werden.

Lokale Gemeinschaften: Die neuen Aids-Programme haben zur Bildung einer Vielzahl von Selbsthilfegruppen in den Gemeinden geführt und zum Überwinden von Stigma beigetragen. Insbesondere Jugendliche und Frauen haben eine aktive Rolle in diesen Prozessen gespielt. Der konstruktive Dialog zwischen Vertretern der traditionellen Medizin – z.B. Heilern und Geburtshelferinnen – und des formalen Gesundheitssystems wurde befördert. Dies nicht zuletzt durch den aktiven Einbezug von Laienpersonal und HIV Patienten. Allerdings fördern die gut finanzierten HIV-Programme mancherorts auch Ungleichheiten: Wer in der Aids-Klinik registriert wird, erhält Dienstleistungen kostenlos (z.B. Schmerzmedikamente, Röntgen, Transportgutscheine, Moskitonetze oder Nahrungsmittelhilfen), für welche andere Patienten bezahlen müssen.

Gesundheitsmanagement: In diesem Bereich hat SolidarMed die größten Herausforderungen erfahren. Einerseits wurden Büros ausgerüstet und Verwaltungsangestellte ausgebildet. Das parallele Management von HIV-Programmen mit ihren spezifischen Anforderungen jedoch neigt dazu, die Stellung der lokalen Gesundheitsbehörden zu untergraben. Separate Finanzierungskanäle können nicht nur eine Quelle der Korruption sein. Sie stellen oft ein Parallelsystem dar, das in Konkurrenz zu staatlichen Finanzierungsmechanismen steht und Inkongruenzen erzeugt.

Host and Parasite? Einige Schlussfolgerungen.

Mit Blick auf die globalen Trends und eigenen Projekterfahrungen im südlichen und östlichen Afrika kommen wir zu folgenden sechs Empfehlungen:

1. Stärkung von Primary Health Care: Das Recht auf universellen Zugang zur primären präventiven und kurativen Versorgung muss ins Zentrum der Gesundheitsplanung gestellt werden. Dazu gehört eine Umverteilung der Ressourcen zu Gunsten eines dichten Netzes von primären, gemeindenahen Einrichtungen und eines funktionierenden Überweisungssystems.

2. Professionalisierung von Dorfgesundheitsarbeitern: Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals beginnt an der Basis. Wenn die Arbeit der Dorfgesundheitsarbeiter professionalisiert wird, profitieren die Menschen von kompetenter Präventionsarbeit, die Patienten von einem verbesserten Zugang zur Versorgung und das formale Gesundheitspersonal von einer Entlastung an der Basis.

3. Programme diagonal gestalten: Krankheitsspezifische Programme sollen so horizontal wie möglich und so vertikal wie nötig ausgestaltet werden. Mindestens 15% der Budgets jedes vertikalen Programms soll in bessere Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals auf allen Ebenen investiert werden.

4. Impakt-Monitoring: Die Wirkung vertikaler Programme soll nicht nur mit Blick auf die direkten Resultate beurteilt werden. Monitoring und Evaluation sollen die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem ebenfalls in Betracht ziehen, zum Beispiel mittels der Einführung eines „health system impact monitoring“.

5. SWAP und Gouvernanz auf Distriktebene: Gesundheit darf nicht privatisiert werden, sie ist Aufgabe des Staates. Dieser muss die sektorspezifischen Programme koordinieren und steuern. Vertikale Programme dürfen die Führung, Kompetenzen und Aufsichtspflicht der Distriktbehörden nicht untergraben. Deren Managementkapazitäten müssen gestärkt werden. Vertikale Programme sollten im Sinne eines SWAP auf Distriktebene budgetiert, gesteuert und koordiniert werden.

6. Dezentralisierung der HIV Behandlung: Um den Zugang zur Aids-Therapie auch den Armen zu ermöglichen, muss ART in die bestehenden ambulanten Gesundheitseinrichtungen bis auf Dorfebene integriert werden. Gleichzeitig müssen klinische Kompetenzzentren, Mechanismen zur Qualitätssicherung sowie ein Mentoringsystem für Pflegepersonal an der Basis etabliert werden.

*Thomas Gass, 40 Jahre, lebt mit Familie in Bern, Ethnologe mit NADEL-Zertifikat, seit 10 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit tätig, 2002-2007 bei SolidarMed, davon 2 Jahre Programmleitung in Tansania, danach 3 Jahre Programmleitung ART auf der Geschäftsstelle, heute selbständiger Konsulent in Entwicklung und Zusammenarbeit, assoziiert mit SolidarMed. Kontakt: thomas.gass@gmx.ch

*Jochen Ehmer, 39 Jahre, lebt mit Familie in Basel, Allgemeinarzt mit Zusatzausbildung in Humanitärer Hilfe (Bochum, Aix-en-Provence), Tropenmedizin (London) und HIV – medizin (Johannesburg). Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit bei Caritas, dem Amt für Humanitäre Hilfe der Europäischen Union, als Länderkoordinator von SolidarMed Mocambique und seit 2007 auf der Geschäftsstelle von SolidarMed verantwortlich für die HIV Programme sowie das Länderprogramm Mocambique. Kontakt: j.ehmer@solidarmed.ch

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