Von Nicole Ngo
Auch 30 Jahre nach ihrer Verabschiedung ist die Deklaration von Alma Ata ein Meilenstein der internationalen Gesundheitspolitik geblieben. Die damals propagierte Primary Health Care (PHC) entsprach einer wahren Denkrevolution. Wie sich der Geist von Alma Ata auf Community Health Projekten ausgewirkt hat und wie ihre Zukunft aussehen wird, war Thema des 7.Symposiums von Medicus Mundi Schweiz.
134 Staaten unterzeichneten die Deklaration von Alma Ata. Damit unterstützten sie das Primary Health Care Konzept als zentrales Instrument der internationalen Gesundheitspolitik. Sie sprachen sich für einen umfassenden Ansatz der Gesundheitsvorsorge aus, der davon ausgeht, dass Gesundheit als Menschenrecht nur dann alle Menschen erreicht, wenn er auch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung einbezieht. Trotz dieser breiten Unterstützung stiess PHC nicht auf ungeteilte Freude. Verschiedene Akteure wie die Weltbank hielten PHC für zu idealistisch und zu teuer: Stattdessen propagierten sie selektive, auf einzelne Krankheiten ausgerichtete Programme, Privatisierungen auch im Gesundheitswesen und ganz allgemein eine Reduzierung der Interventionen der öffentlichen Hand. Dank der Schuldenkrise in den 80er Jahren konnte die Weltbank eine Kommerzialisierung des Gesundheitswesens durchsetzen.
Primary Health Care und das darin enthaltene Postulat, „community based“ zu arbeiten und die lokalen Gemeinschaften in die Entwicklung der Gesundheitsprojekte einzubeziehen, stiess aber bei den Hilfswerken auf offene Ohren: PHC und Community Health wurde für sie zu einem der zentralen Grundlage bei der Umsetzung ihrer Projekte. Primary Health Care blieb damit eine zentrale Referenz der internationalen Gesundheitszusammenarbeit und konnte sich 2008 dank dem Weltgesundheitsbericht, dem Alma Ata Jubiläum und den mit strukturellen Problemen kämpfenden selektiven Programmen wieder in die öffentliche Debatte einbringen.
Nicht nur bei den Hilfswerken sondern auch in den Gesundheitsprojekten der DEZA hat sich PHC etabliert. Maya Tissafi zeigte am Symposium, wie sich in Tansania und Nepal die Arbeit der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit mit den Prinzipien von Alma Ata bewährt hatte. Im Tansania-Projekt haben Empowerment und Partizipation die gesundheitlichen Bedürfnisse der Menschen stillen können. Gemeinsame Finanzierungen von Gesundheitsprojekten ermöglichten es, auf lokale Gesundheitsprobleme einzugehen und so die Gesundheit in den Projektgemeinden zu stärken. Primary Health Care hat sich für die DEZA bewährt. Sie wird auch zukünftig mit dem PHC-Ansatz für mehr Gerechtigkeit und Gesundheit lancieren.
Verena Wieland vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) und Tseggai Gherezghiher (Vision Eritrea) berichteten von Erfolgen, die in Community Health Projekten erzielt wurden. Sie sprachen aber auch von Grenzen der Umsetzung, die immer mit dem jeweiligen kulturellen und politischen Kontext zusammenhängen. Das Gesundheitsprogramm des SRK stützt sich bei der primären Gesundheitsversorgung auf die Prinzipien von Alma Ata. Der Fokus des SRK liegt auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Der Gedanke Gesundheit als Menschenrecht lebt weiter, indem die Gesundheitssysteme als Ganzes gefördert werden. Ein Problem, das sich immer wieder in den SRK-Projekten stellt sind die mangelnde Dezentralisierung sowie die Ressourcenknappheit der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Basierend auf verschiedenen Fallstudien des SRK ist auch Verena Wieland der Meinung, dass die Grundsätze von Alma Ata die zentrale Ausgangslage darstellen, um die Gesundheitssituation von sozial Benachteiligten zu verbessern.
Für Community Health Programme ist die primäre Gesundheitsversorgung entscheidend. Während der Umsetzung des Programmes „Community Based Health Care in Eritrea“ hatte man stets zwei Gedanken im Hinterkopf: Die selbstständige Steuerung des Gesundheitswesens und die Nachhaltigkeit. Um das Alma Ata-Konzept weiter zu verfolgen, wurden Dorfkommitees gegründet, die zunächst auf freiwilliger Basis die Gesundheitsposten stärkten.
Dass es möglich ist, vertikale Programme in das Alma Ata Konzept zu integrieren, verdeutlichte in der Diskussion Verena Wieland an einem kontextbezogenen Beispiel in Ecuador. Das selektiv ausgerichtete Tuberkuloseprojekt finanzierte der Global Fund. In den Vertragsverhandlungen bestand das SRK erfolgreich darauf, dass nebst diesem vertikalen auch ein horizontaler Ansatz integriert werde, indem auch lokale und regionale Gesundheitsposten gefördert würden.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums waren sich einig darüber, dass Primary Health Care weiterentwickelt werden muss, um das Ziel „Gesundheit für alle“ zu erreichen. Doch in welcher Weise sollte man ansetzen? In den letzten Jahren haben sich verschiedene Projekte der Gesundheitszusammenarbeit entwickelt. Wie steht es um das Gesundheitspersonal und um die Medikamentenversorgung? Alexander Schulze von der Novartis Foundation referierte über die Zugangsinitiativen von Gesundheitssystemen und von gestärkten Gesundheitsdiensten. Die Bevölkerung soll über Krankheiten informiert werden, um ihre Gesundheit davon profitieren zu lassen. Das Gesundheitspersonal wird weitergebildet und durch Supervisionen unterstützt. Auf dem PHC-Ansatz basierend sollen Menschen von Krankheiten wie Malaria ihren Weg in Gesundheitszentren finden. Dabei sollen traditionelle Heiler nicht übergangen werden, sondern in die Behandlung der kranken Menschen mit einbezogen werden. Eine ähnliche Perspektive forderte Carlo Santarelli von Enfants du Monde in seinem Vortrag, indem der Community-Bereich in das Gesundheitswesen miteinbezogen werden sollte, da immer noch eine Ungleichheit aufgrund der grossen Arm-Reich-Schere bei der medizinischen Versorgung existiere.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten in Gruppen über Chancen und Risiken der Nachhaltigkeit. Menschen leisten freiwillige Arbeit, indem sie es für ihre Gemeinschaft tun. Verena Wieland verstärkte diese Aussage und wünscht sich von allen eine Zusammenarbeit, die die gleiche Richtung anstrebt. Dies könnte mit dem Aufbau von verschiedenen Netzwerken geschehen. NGOs könnten eigene PHC-Modelle entwickeln, doch dies kann die Gesundheitsministerien nicht von ihren Aufgaben entledigen.
Der Abschluss des Symposiums erfolgte mit Referaten zur Dichotomie zwischen
vertikalen und horizontalen Programmen. Die Millenium Development Goals (MDG)
können nur erreicht werden, wenn die Gesundheitssysteme an der Basis gestärkt
werden. „Die vertikalen Programme neigen dazu, eines der Hauptanliegen der Sektorreformen,
die Stärkung von leadership und ownership auf der Distriktsebene zu untergraben“,
referierte der Ethnologe Thomas Gass. Grosse Personalnot, eine ungenügende Infrastruktur
und schlecht funktionierende Überweisungssysteme verhindern eine einwandfreie
Basisversorgung im Allgemeinen.
Primary Health Care hat sich dort bewährt, wo ganz bestimmte Voraussetzungen
ernst genommen wurden, indem man die Zivilgesellschaft stärkt und kulturelle
Eigenheiten berücksichtigt. Eine weitere Grundvoraussetzung ist die Dezentralisierung
der Gesundheitssysteme. Der vertikale und horizontale Ansatz bilden einen künstlichen
Gegensatz zueinander. Die Chance besteht darin, dass vertikale Programme in
horizontal in die Gesundheitssysteme integriert werden, wozu aber eine starke
Basis vorhanden sein muss. Nicht zuletzt sollte in den lokalen Verhältnissen
sensibel mit vertikalen Programmen umgegangen werden, indem der „Do No Harm“
Ansatz fruchten soll. Primary Health Care und der Geist von Alma Ata leben weiter
und werden Gesundheitsorganisationen weiterhin als Schlüsselthema begleiten.
Mit Primary Health Care beginnt der Kampf gegen Armut, der auch gleichzeitig
zur Stärkung der WHO beitragen möchte. „Die WHO ist politisch legitimiert und
hat das Recht Gesundheit zu sichern und zu fördern und ist (trotz ihrer Denkkrise)
die einzige Organisation, die in dieser Hinsicht die Führungsposition übernehmen
kann“, sagte Eduardo Missoni, Tropenmediziner und Vertreter von Global Health
Watch Italy.
*Nicole Ngo studiert an der Universität Basel Medienwissenschaft und Kulturanthropologie.