Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechten: Eine grosse Herausforderung in humanitären Krisen
Medizinische Massnahmen im Rahmen eines Familienplanungsprogrammes in einer Notfallsituation. Foto: © Deutsches und Kolumbianisches Rotes Kreuz

Frauen und Mädchen werden in humanitären Kontexten weiterhin grundlegende SRHR vorenthalten, mit verheerenden Folgen. Studien haben gezeigt, dass während humanitärer Krisen die Raten ungewollter Schwangerschaften, unsicherer Abtreibungen, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, sexuell übertragbarer Infektionen (einschliesslich HIV), Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt, Fehl- und Totgeburten, Mütter- und Neugeborenensterblichkeit und -morbidität steigen (UNFPA, 2022).

Obwohl SRHR einen wichtigen Aspekt der humanitären Hilfe darstellen, werden sie in Krisensituationen oft übersehen. In der Vergangenheit haben sich humanitäre Organisationen auf unmittelbare Bedürfnisse wie Unterkünfte, Nahrungsmittel und medizinische Versorgung zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten konzentriert und dabei häufig die besonderen Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung im Bereich SRH vernachlässigt. Im Jahr 2020 initiierte UNFPA das Minimum Initial Service Package (MISP) im Bereich SRH (UNFPA, 2020), das sich im Inter-agency Field Manual on Reproductive Health in Humanitarian Settings (IAWG, 2018) widerspiegelt und in bestehende Standards und Finanzierungsmechanismen für humanitäre Massnahmen wie das Sphere Handbook (Sphere, 2018) und den Central Emergency Response Fund aufgenommen wurde. Während einer humanitären Krise konzentrieren sich die Ressourcen jedoch häufig auf die unmittelbare Notsituation, was zu einer Verringerung der allgemein für SRH-Programme und insbesondere der für SRH-Aufklärungsprogramme bereitgestellten Mittel führt. Mit der Anerkennung von SRHR als grundlegendes Menschenrecht, besteht weiterhin die dringende Notwendigkeit, die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen, Männern und Jungen in humanitären Krisen und Migrationskontexten zu berücksichtigen.

Obwohl SRHR einen wichtigen Aspekt der humanitären Hilfe darstellen, werden sie in Krisensituationen oft übersehen. (...) Mit der Anerkennung von SRHR als grundlegendes Menschenrecht, besteht weiterhin die dringende Notwendigkeit, die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen, Männern und Jungen in humanitären Krisen und Migrationskontexten zu berücksichtigen.
Untersuchung in einem Behandlungszelt. Foto: © SRK <br>
Untersuchung in einem Behandlungszelt. Foto: © SRK

Zugang zu SRH-Dienstleistungen:

In Notsituationen – wie bei Naturkatastrophen, bewaffneten Konflikten und Pandemien – ist der Zugang zu SRH-Diensten aus mehreren zwingenden Gründen noch wichtiger:

  • Sexuelle Gewalt und Ausbeutung – Der Zugang zu SRHR-Diensten, einschliesslich Notfallverhütung und psychosozialer Unterstützung für Überlebende sexueller Gewalt, ist von entscheidender Bedeutung, um die Folgen solcher Gewalt zu mildern und eine rechtzeitige und notwendige Versorgung nach einer Vergewaltigung sicherzustellen. Die Einrichtung sicherer Räume, das Angebot klinischer Betreuung für Opfer sexueller Gewalt und die Schulung von Gesundheitsdienstleistern im vertraulichen Umgang mit sensiblen Fällen sind wesentliche Massnahmen zur Linderung der Folgen.
  • Kontinuität der Betreuung von Müttern und Neugeborenen – Schwangere sind in Krisenzeiten erhöhten Risiken ausgesetzt. Die Sicherstellung des Zugangs zur medizinischen Versorgung von Müttern – von der Schwangerenvorsorge über die geburtshilfliche Notfallversorgung bis hin zu sicheren Entbindungen – ist für die Senkung der Mütter- und Neugeborenensterblichkeit von entscheidender Bedeutung.
  • Zugang zu Verhütungsmitteln und Familienplanung – In Notfällen werden Familienplanungsdienste oft unterbrochen, was zu ungewollten Schwangerschaften führt. Die Aufrechterhaltung des Zugangs zu diesen Diensten respektiert die individuelle Autonomie bei reproduktiven Entscheidungen.
  • Sichere Anlaufstellen für Abtreibungen – Krisen führen zu einer erhöhten Nachfrage nach sicheren Anlaufstellen für Abtreibungen, die häufig nicht mehr zugänglich sind. Wo dies legal ist, ist die Gewährleistung sicherer Abtreibungsmöglichkeiten und einer Betreuung nach dem Abbruch entscheidend für die Vermeidung unsicherer Verfahren.
  • Unterstützung gefährdeter Bevölkerungsgruppen – Randgruppen wie Jugendliche, Menschen mit Behinderungen und LGBTQ+-Personen können in Notfällen zusätzliche Hindernisse beim Zugang zu SRHR-Diensten erfahren. Gezielte Massnahmen sind unerlässlich, um ihre Bedürfnisse wirksam zu erfüllen.
  • Psychosoziale Unterstützung für die betroffene Bevölkerung – Die Gewährleistung einer angemessenen psychosozialen Unterstützung für betroffene Frauen und Männer in Notsituationen trägt dazu bei, Stressfaktoren zu reduzieren, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt (SGBV) zu verhindern und Informationen über persönliche SRHR bereitzustellen.

Um die Gesundheit und die Rechte der betroffenen Bevölkerungsgruppen zu schützen, müssen gezielte Strategien Inklusion und Zugänglichkeit bei der Erbringung von SRHR-Diensten gewährleisten und die Gesundheitsdienstleister darin schulen, sensibel auf die besonderen Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen einzugehen. Die Übernahme evidenzbasierter Praktiken aus stabilen Verhältnissen kann einen Weg zur Verbesserung der SRHR von Geflüchteten und Vertriebenen in humanitären Krisen bieten. Bei der Gewährleistung von SRHR in Notsituationen geht es nicht nur um den Schutz der Gesundheit, sondern auch um die Wahrung der Rechte und der Autonomie der Einzelnen bei ihren reproduktiven Entscheidungen.


Behandlung von SRH in anderen Sektoren als dem Gesundheitswesen

Neben den Standards für die reproduktive Gesundheit in humanitären Einsätzen sieht das Sendai-Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge 2015–2030 auch die Bereitstellung von SRH-Diensten als wichtige Komponente zur Stärkung der individuellen und gemeinschaftlichen Widerstandsfähigkeit vor.

Sensibilität für SRHR ist nicht nur bei Gesundheitsmassnahmen wichtig, sondern auch bei der Bereitstellung von Lagerinfrastrukturen wie Unterkünften, sicheren Räumen, Wasser und sanitären Einrichtungen sowie bei der Verteilung von Hilfsgütern. Um SGBV zu verhindern, muss sich der nächtliche Zugang zu Latrinen in der Nähe des Aufenthaltsortes der Frauen und Mädchen befinden und gut beleuchtet sein. Die Lager benötigen eine gute Beleuchtungsinfrastruktur auf Strassen und Wegen, und es muss sichergestellt werden, dass die Wege zwischen den Unterkünften und den Verteilungsstellen für Hilfsgüter und Wasser kurz sind. Die Infrastruktur des Lagers sollte den Zugang für Krankenwagen für Geburtshilfe und andere Notfälle ermöglichen.

Eine gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren der humanitären Hilfe ist Voraussetzung, um die Bedürfnisse im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit auf integrierte Weise anzugehen und mögliche negative Folgen an der Wurzel abzumildern.

Die Übernahme evidenzbasierter Praktiken aus stabilen Verhältnissen kann einen Weg zur Verbesserung der SRHR von Geflüchteten und Vertriebenen in humanitären Krisen bieten. Bei der Gewährleistung von SRHR in Notsituationen geht es nicht nur um den Schutz der Gesundheit, sondern auch um die Wahrung der Rechte und der Autonomie der Einzelnen bei ihren reproduktiven Entscheidungen.
Foto: © SRK <br>
Foto: © SRK
Sensibilität für SRHR ist nicht nur bei Gesundheitsmassnahmen wichtig, sondern auch bei der Bereitstellung von Lagerinfrastrukturen wie Unterkünften, sicheren Räumen, Wasser und sanitären Einrichtungen sowie bei der Verteilung von Hilfsgütern.

Kann das "R für Rechte" in humanitären Krisen angemessen berücksichtigt werden?

Das Themenspektrum der SRHR ist breit gefächert und umfasst das Recht, informierte Entscheidungen über den eigenen Körper und die reproduktive Gesundheit zu treffen, frei von Gewalt, Diskriminierung und Zwang. Der Zugang zu umfassender Sexualerziehung, Verhütungsmitteln, sicheren Abtreibungsmöglichkeiten, medizinischer Versorgung von Müttern und der Prävention von Geschlechtskrankheiten ist für die Wahrung dieser Rechte von entscheidender Bedeutung.

Auch wenn sich die humanitären Organisationen bemühen, funktionierende SRH-Dienste und ein förderliches Umfeld zu schaffen, das Frauen und Mädchen, Männer und Jungen vor sexueller Gewalt schützen soll, ist das "Recht, informierte Entscheidungen über den eigenen Körper und die reproduktive Gesundheit frei von Gewalt, Diskriminierung und Zwang zu treffen" für die Organisationen fast unmöglich umzusetzen.

Auch wenn Länder die Genfer Konventionen unterzeichnet haben, werden diese Grundsätze immer weniger beachtet, und die humanitäre Diplomatie ist wichtiger denn je. Darüber hinaus sind die Defizite im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit häufig auf soziokulturelle und rechtliche Hindernisse zurückzuführen, die in den letzten zehn Jahren in vielen Ländern immer restriktiver geworden sind. Dies unterstreicht den dringenden Handlungsbedarf zur Förderung und zum Schutz dieser Rechte in humanitären Kontexten, um so Gesundheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlergehen insgesamt zu fördern. Die Akteure der humanitären Hilfe stehen jedoch vor der Herausforderung, die richtigen Ansatzpunkte für SRHR in Notsituationen zu finden, um ihre allgemeine Legitimität zur Unterstützung der Bevölkerung in Notsituationen nicht zu gefährden.

Auch wenn sich die humanitären Organisationen bemühen, funktionierende SRH-Dienste und ein förderliches Umfeld zu schaffen, das Frauen und Mädchen, Männer und Jungen vor sexueller Gewalt schützen soll, ist das "Recht, informierte Entscheidungen über den eigenen Körper und die reproduktive Gesundheit frei von Gewalt, Diskriminierung und Zwang zu treffen" für die Organisationen fast unmöglich umzusetzen.

Die Genfer Konvention und die Schweiz

Der dringende Bedarf an umfassenden SRHR-Diensten kann im Zuge drohender Krisen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Durch die Einbeziehung von SRHR in die Notfallvorsorge und in Notfalleinsätze können humanitäre Organisationen die Not lindern und Rechte, Würde und Gesundheit der betroffenen Gemeinschaften wahren. Trotz der Fortschritte, die seit der Kairoer Vereinbarung (UNFPA, 1994) erzielt wurden, muss die Weltgemeinschaft ihrer Verpflichtung zum gleichberechtigten Zugang zu hochwertigen SRHR-Diensten in einem zunehmend schwierigen Umfeld, noch nachkommen.

Als Unterzeichnerin des Kairoer Abkommens und Ursprungsland der Genfer Konvention (ICRC,1949) kann die Schweiz eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung des Zugangs zu SRHR-Dienstleistungen in Notsituationen spielen. Durch Sensibilisierung, Mobilisierung von Ressourcen und Demonstration von Führungsstärke, durch Finanzierung und Lobbyarbeit kann die Schweiz einen wichtigen Beitrag zu einem gerechteren und robusteren humanitären Einsatz leisten, indem sie den Zugang zu wesentlichen SRHR-Diensten sicherstellt und gleichzeitig die Genfer Konventionen durch humanitäre Diplomatie aufrechterhält. Durch gemeinsame Anstrengungen können wir das Versprechen einer universellen SRHR für alle einlösen – insbesondere in den verletzlichsten Situationen.

Der dringende Bedarf an umfassenden SRHR-Diensten kann im Zuge drohender Krisen nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Referenzen
Agenor Junior Clerge
Agenor Junior Clerge ist Facharzt für Geburtshilfe und Gynäkologie. Nach Langzeit- und Notfalleinsätzen in verschiedenen Kontexten und Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo, Nigeria, Niger, Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik, Mosambik, Nicaragua, Peru, Mexiko, Haiti und im Nahen Osten, insbesondere im Irak, trat er 2023 dem Schweizerischen Roten Kreuz bei, als Koordinator des Programms "Health in Emergency and Surge". E-Mail
Monika Christofori-Khadka
Monika Christofori-Khadka arbeitet als Senior Health Adviser in der Abteilung Internationale Zusammenarbeit des Schweizerischen Roten Kreuzes. Ihr besonderes Interesse gilt der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, der Stärkung von Gesundheitssystemen und dem Engagement von Gemeinschaften. Monika Christofori-Khadka ist zudem Vizepräsidentin von Medicus Mundi Schweiz. E-Mail