Von Thomas Schwarz
Mit „Resilienz“ ist im Nachgang zur Ebola-Epidemie am Horizont der globalen Gesundheitspolitik ein neuer Begriff aufgetaucht, der es selbst in die Nachhaltigkeitsziele schaffen wird. Stärkt er die Debatte um starke Gesundheitssysteme oder lenkt er nicht vielmehr von der Notwendigkeit grundsätzlicher Änderungen ab? Thomas Schwarz, Geschäftsführer der Netzwerks Medicus Mundi International geht der Debatte auf den Grund.
Man kann ja seine Augen nicht überall haben, oder? So merke ich erst beim Verfassen dieses Beitrags, dass ich die erste Phase der Debatte um „Resilienz“ völlig verschlafen habe: Bereits vor mehreren Jahren kritisierten Fachleute die Schwammigkeit (Levine et al 2012) und den Nutzen (Hussain 2013) des Resilienzkonzepts in der internationalen Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit.
Worum geht es? „Resilienz (lateinisch resilire ‚zurückspringen‘, ‚abprallen‘, deutsch etwa Widerstandsfähigkeit) beschreibt die Toleranz eines Systems gegenüber Störungen.“ (Wikipedia, August 2015) Resilienz bedeutet also Krisentauglichkeit: Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften, aber auch Staaten und deren Versorgungssysteme sollen „fit sein für die Katastrophe“.
In der globalen Gesundheitspolitik war „Resilienz“ bis Ende letzten Jahres kein Thema. Im „Resilence Scan 2014“ des britischen Overseas Development Institute erscheint der Gesundheitssektor denn auch noch nicht auf dem Radar der acht im Hinblick auf ihren Resilienzdiskurs untersuchten globalen Politikbereiche. (Resilience Scan 2014) Und in den 517-seitigen „summary records“ der Weltgesundheitsversammlung vom Mai 2014 habe ich „Resilience“ gerade dreimal gefunden, davon zweimal ironisch verwendet und einmal als Resilienz von Gesundheitssystemen gegenüber dem Klimawandel – gegenüber 182 Nennungen von „Universal“ (World Health Assembly: Stichwortsuche).
“By 2030, build the resilience of the poor and those in vulnerable situations and reduce their exposure and vulnerability to climate-related extreme events and other economic, social and environmental shocks and disasters” UN Sustainable Development Goals, Ziel 1.5 (2030 Agenda for Sustainable Development, August 2015)
Doch bereits ein Jahr später, im Mai 2015, lautet das Motto der Weltgesundheitsversammlung „Resiliente Gesundheitssysteme“.
Was ist passiert? Ebola ist passiert. Die Epidemie in Westafrika und die damit verbundene Befürchtung, dass sich die Seuche auf die ganze Welt ausbreiten könnte, beförderten die Krisentauglichkeit nationaler und globaler Gesundheitssysteme plötzlich zum Topthema der globalen Aufmerksamkeit und Politik – als Schwachstelle einer globalen Sicherheitspolitik, als Bedrohung von Welthandel und Weltwirtschaft. Grund genug, die Sache etwas genauer anzusehen. Dies richtet einerseits den Blick auf die globalen Mechanismen im Umgang mit Gesundheitskrisen, aber auch auf die Schlüsselrolle nationaler Gesundheitssysteme, die eben „resilient“ sein müssen.
Und „resiliente Gesundheitssysteme“ wurde zu einem Modewort im globalen gesundheitspolitischen Diskurs, so wie etwa zwei Jahre zuvor „Universal Health Coverage“: Von allen gebraucht, doch immer etwas undeutlich definiert.
Es gibt inzwischen ein paar gute Texte zur Resilienz und auch dazu, was ein resilientes Gesundheitssystem ausmacht.
So steht etwa in einem Editorial des WHO-Bulletins der einfache Satz: „Schwache Gesundheitssysteme können nicht resilient sein.“ (Marie-Paule Kieny et al 2014) In einem Kommentar in der Lancet (Kieny & Delanyo 2015) wird die stellvertretende WHO-Generaldirektorin Marie-Paule Kieny deutlicher: „Wir benötigen Gesundheitssysteme, die auf den Prinzipien der Primary Health Care beruhen und in der Lage sind, sowohl auf alltägliche wie auch ausserordentliche Herausforderungen zu reagieren.“ Dazu benötige es:
Was in diesem Katalog (nicht) überrascht, ist, dass es sich dabei, vielleicht mit Ausnahme der „Frühwarnsysteme“, ganz einfach um altbekannte Qualitäten guter oder starker Gesundheitssysteme handelt. Die Forderung nach „resilienten“ Gesundheitssystemen erweist sich somit auf den ersten Blick als alter Wein im neuen, modischen Schlauch.
Resilienz ist eine durchaus erwünschte zusätzliche Qualität eines guten Gesundheitssytems. Indem sie nun das Konzept aufnehmen und in ihren Sprachgebrauch integrieren, profitieren die „Gesundheitssystemler“ vom Gesetz der grösseren Aufmerksamkeit im Moment der akuten Krise. Wer mag es ihnen verübeln, nach Jahren der Vernachlässigung der Gesundheitssysteme in Zeiten der Millenniumsentwicklungsziele und vertikalen Programme der Krankheitsbekämpfung?
Dass Krisentauglichkeit ein erwünschtes Nebenprodukt erfolgreicher Politik in anderen Bereichen ist, zeigt sich auch in einem soeben erschienen Beitrag des Overseas Development Institutes (ODI) zur Frage der Indikatoren für die Erreichung des eingangs zitierten nachhaltigen Entwicklungsziels 1.5. (Bahadur et al 2015) Die Antwort: Es gibt keine „einfachen“ Messgrösse zur Resilienz, sondern es braucht komplexe, kombinierte Indikatoren. Nur wenn verschiedene Schlüsselindikatoren der sozialen Entwicklung und Absicherung sowie des Umgangs mit globalen Krisen und Katastrophen erreicht sind, ist auch Resilienz erreicht. Gemäss ODI-Papier umfasst Resilienz drei Qualitäten respektive Fähigkeiten sozialer Systeme:
Dies alles macht meines Erachtens Sinn.
Dennoch stösst das Resilienzkonzept in linken Kreisen auf vehementen Widerstand. Ich lasse meinen Kollegen Thomas Gebauer von medico international im Folgenden ausführlich zu Wort kommen. Gebauer stellt die Begriffe Nachhaltigkeit und Resilienz einander wie folgt gegenüber:
„Nachhaltigkeit, wie auch immer der Begriff verwendet wird (tatsächlich hat sich auch an ihm sehr viel Kritik entzündet), impliziert Wertvorstellungen, an denen sich politische, ökonomische und technologische Entscheidungen ausrichten sollen. Insbesondere in der Idee der nachhaltigen Entwicklung geht es um Vorstellungen, wie durch aktive Gestaltung der Verhältnisse menschenwürdige Lebensumstände geschaffen und Gefahren und Krisen minimiert werden können.
Ein solches normatives Konzept fehlt der Idee der Resilienz: ihr geht es nicht mehr um gesellschaftliche Ideale, sondern nur um die Frage, wie sich Menschen und Systeme gegen Störungen, sprich: gegen eine aus den Fugen geratenen Welt schützen können. Ihre Klammer ist nicht mehr das Bemühen um eine Korrektur zerstörerischer Verhältnisse, sondern die Anpassung an einen offenbar unaufhaltsam, weil alternativlos voranschreitenden Zerstörungsprozess. (...)
Wenn sich alle auf diese Weise „fit für die Katastrophe“ machen, wird die Idee einer anderen, einer solidarischen Welt obsolet. Resilienz macht es möglich, dass sich der herrschende Zerstörungsprozess selbst noch in Zeiten größter Gefahr und Not als ‚Business as usual‘ fortsetzen kann. Und eben darin steckt das Paradox heutiger Resilienz-Konzepte: Sie stabilisieren genau jene Verhältnisse, an deren prekären Zustand sich das Bedürfnis nach Resilienz entzündet.“ (Gebauer 2015)
Resilienz ist also Teil eines Herrschaftsdiskurses, ist ein Ablenkungsmanöver, ist die Eröffnung eines Nebenschauplatzes, um von der der grundlegenden Krise, den wahren „krankmachenden“ Faktoren abzulenken. Das liest sich schon sehr überzeugend, wie auch die gesamte Dokumentation der kürzlich stattgefundenen Veranstaltung von medico international mit dem Titel „Fit für die Katastrophe“. Ich empfehle insbesondere den brillianten Vortrag von Marc Neocleous mit dem einschlägigen Titel „Resisting Resilience“ zur eingehenden Lektüre. (Neocleous 2015)
Wem gehören die Wörter? Wie werden sie verwendet, mit welcher Absicht? Mit der Resilienzkritik erleben wir die „Ausgabe 2015“ der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit scheinbar „technischen“ oder „neutralen“ Konzepten. Die Beiträge von Gebauer und Neocleous sind durchaus willkommene Augenöffner.
Anderseits muss es nicht bei „Resisting Resilience“ bleiben. Wir können uns Wörter und Konzepte auch (wieder) aneignen, gerade durch kritische Diskussion und durch das Beharren auf Präzisierung.
In diesem Sinne gebe ich noch eins drauf, in dem ich die Stichworte „anticipatory capacity“ (ODI) und „Frühwarnsysteme“ (Kieny) aufgreife: Was wir schon zum Begriff „Universal Health Coverage“ angemerkt haben (Medicus Mundi International 2013, pdf), gilt auch für Resilienz: Angesichts knapper Ressourcen stellt sich die Frage, in welchen Bereichen und mit welchen Massnahmen die Gesundheitssysteme am wirkungsvollsten gestärkt werden. Zu starke Fokussierung auf die Antizipation von Krisen (zum Beispiel durch gesundheitspolizeiliche Strukturen und Massnahmen) kann durchaus Kräfte und Finanzen absorbieren, die zur Bewältigung der täglichen Gesundheitskrise benötigt und in anderen Schlüsselbereichen (etwa Gesundheitspersonal) nutzbringender investiert würden. Systemisches Denken und eine umfassende und einbindende Gesundheitspolitik sind gefragt.
Nochmals: Krisenfestigkeit oder Resilienz sind aus meiner Sicht durchaus erwünschte Nebeneffekte eines starken Gesundheitssystems. Aber es gibt keine Abkürzung, keinen „quick fix“, weder im Aufbau starker nationaler Gesundheitssyteme noch in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der permanenten Krise und ihrer nachhaltigen Überwindung.