Nachhaltigkeit: Vor dem Hintergrund auseinanderklaffender Meinungen muss der Bundesrat entscheiden
Die Plattform der Schweizer Zivilgesellschaft benötigt dringend eine Nachhaltigkeitsstrategie. Foto: © M. Bichsel

Vor fünf Jahren hat die Schweiz die UNO-Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) verabschiedet. Die Umsetzung dieser ambitionierten Ziele ist angesichts der multiplen Krisen unserer Zeit dringend notwendig. Antonio Guterres, Generalsekretär der UNO, stellt klar: die Umsetzung der 17 SDGs verlangt einen grossen politischen Willen und ambitionierte Aktionen von allen Beteiligten. In der Schweiz haben wir bislang viel zu wenig von beidem gesehen. Zwar hat der Bundesrat ein Direktionskomitee und zwei Delegierte zur Umsetzung der Agenda eingesetzt. Ein erster wichtiger Schritt für die Umsetzung fehlt jedoch: die Schweiz hat immer noch keine Strategie Nachhaltige Entwicklung für das kommende Jahrzehnt.

Ohne nationale Strategie kann der Bundesrat die Agenda 2030 der UNO nicht umsetzen, zu der sich die Schweiz 2015 zusammen mit weiteren 192 Staaten verpflichtet hat.

Erfüllung aller Nachhaltigkeitsziele in der Schweiz und durch die Schweiz

Die Plattform Agenda 2030, der neben Medicus Mundi Schweiz 50 weitere zivilgesellschaftliche Organisationen angehören, hat sich Ende September an den Bundesrat mit einem Appell gewandt.

Am 17.9.2020 standen Klimagerechtigkeit und Gleichstellung der Geschlechter im Mittelpunkt der Debatten der Plattform. Foto: © E. Schmassmann
Am 17.9.2020 standen Klimagerechtigkeit und Gleichstellung der Geschlechter im Mittelpunkt der Debatten der Plattform. Foto: © E. Schmassmann

Die Plattform Agenda 2030 fordert die Umsetzung aller 17 globalen Ziele in der Schweiz und durch die Schweiz sowohl auf dem Finanz- und Wirtschaftsstandort als auch in der internationalen Zusammenarbeit. Die Plattform nimmt wie folgt Stellung zu den drei Schwerpunktfeldern, die der Bundesrat in seiner Legislaturplanung angekündigt hat:

  • Konsum und Produktion müssen nachhaltig gestaltet werden. Drei Viertel, der in der Schweiz verbrauchten natürlichen Ressourcen fallen im Ausland an. Unser Land ist durch seine Handelspolitik und Finanzinvestitionen im Ausland Weltspitze bezüglich sogenannter Spillover-Effekte. Die Bundesverwaltung muss dringend ihre öffentliche Beschaffung nachhaltig und verantwortungsvoll gestalten, Kostenwahrheit sicherstellen und die Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen schaffen.
  • Der Klimawandel und der Schutz der Ökosysteme müssen vorrangig angegangen werden. Die Schweiz muss dem beschleunigten Verlust ihrer biologischen Vielfalt Einhalt gebieten, ihre Treibhausgasemissionen reduzieren und die Entwicklungsländer unterstützen, insbesondere im Hinblick auf erneuerbare Energiesysteme.
  • Die Schweiz muss mehr tun, um Chancengleichheit zu erreichen. Es gilt alle Dimensionen von Benachteiligungen zu erkennen und zu reduzieren, seien dies strukturelle, prozedurale, soziale oder ökonomische Ungleichheiten. Mehrfachdiskriminierungen, beispielsweise aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Behinderung, gilt es besonders Rechnung zu tragen. Nur so werden wir dem Leitprinzip der Agenda 2030 "niemanden zurückzulassen" gerecht.
Die Ziele der nachhaltigen Entwicklung verpflichten uns für die Zukunft unserer Kinder. Foto: © UN/UNO
Die Ziele der nachhaltigen Entwicklung verpflichten uns für die Zukunft unserer Kinder. Foto: © UN/UNO

Eine den Ambitionen angepasste Strategie

Es ist höchste Zeit, dass der Bundesrat ein Projekt in die Vernehmlassung gibt und damit den Weg frei macht für die Verabschiedung einer neuen Strategie Nachhaltige Entwicklung, die den von ihm selbst angekündigten Ambitionen gerecht wird.

Entscheidungen im Interesse von Klima und Artenvielfalt sind überfällig

Das anhaltende Fehlen einer nationalen Strategie verhindert kohärente Entscheidungen und begünstigt eine widersprüchliche Interessenspolitik, die einer nachhaltigen Entwicklung zuwider läuft, wie Waffenexporte in Bürgerkriegsländer, Subventionen, die der biologischen Vielfalt schaden, unkoordinierte Freihandelsabkommen und willkürliche Migrationspolitik. Die Coronakrise darf die Veröffentlichung einer Strategie nicht weiter verzögern, die auf die Ursachen von Epidemien im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung und dem dramatischen Rückgang der Artenvielfalt einwirken kann. Gleichzeitig müssen wir auf die Auswirkungen und Umwälzungen in der Arbeitswelt reagieren und den Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung, Gesundheit und Information für alle gewährleisten.

Das anhaltende Fehlen einer nationalen Strategie verhindert kohärente Entscheidungen und begünstigt eine widersprüchliche Interessenspolitik, die einer nachhaltigen Entwicklung zuwider läuft.

Nachhaltige Entwicklung stärkt die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft und verringert die Anfälligkeit der Schwächsten. Eine Strategie, die hauptsächlich auf wirtschaftliche und sektorale Belange ausgerichtet ist, würde nicht die notwendige Kohärenz und die von der Regierung bereits in ihrer Legislaturplanung festgelegten Ansprüche erfüllen.

Pierre Zwahlen, Präsident der Plattform Agenda 2030. Foto: © E. Schmassmann
Pierre Zwahlen, Präsident der Plattform Agenda 2030. Foto: © E. Schmassmann

Schweiz: führend im Verursachen von Kosten im Ausland

Gemäss der Bertelsmann-Stiftung lebt die Schweiz stärker als alle anderen Staaten auf Kosten des Auslands. In einem 2019 publizierten Bericht der deutschen Stiftung liegt die Schweiz auf dem schlechtesten Rang, was die Auswirkungen der Güter betrifft, die sie importiert oder jenseits der Grenze produzieren lässt. Die Stiftung vergleicht 160 Länder im Hinblick auf die verschiedenen Ziele nachhaltiger Entwicklung. Während die Schweiz generell eher gut abschneidet, wird sie insbesondere in Bezug auf Nachhaltigen Konsum und Produktion (SDG 12) sehr schlecht und in Bezug auf Biodiversität (SDG 15) sowie Steuerwesen (SDG 17) mittelmässig bewertet. In Bezug auf Nachhaltigkeit belegt die Schweiz gemäss Bertelsmann Stiftung nur den 17. Rang, was im Gegensatz zum 2. Platz im Human Development Index des UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) steht. PZ

Referenzen

Pierre Zwahlen
Pierre Zwahlen, Präsident der Schweizer Plattform Agenda 2030, ist Abgeordneter im Waadtländer Grossen Rat und hat auf kantonaler Ebene die Umsetzung der SDG vorangetrieben. Er hat einen Master in Politikwissenschaften abgeschlossen und war Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizer WWF. Er ist Präsident der Waadtländer Entwicklungsföderation (Fédération vaudoise de coopération, fedevaco) und Co-Präsident des Mieterverbands Lausanne (Asloca).