Gewalt im Geburtssaal ist politisch! – Ausführungen zu einem weltweiten Phänomen
Gebärende in Togo, die von ihrem Partner begleitet wird. Foto: © IAMANEH

Gewalt im Zusammenhang mit Geburt, für die auch im deutschen oft der englische Ausdruck obstetric violence benutzt wird, ist weder ein neues noch an einen bestimmten regionalen oder kulturellen Kontext gebundenes Phänomen. Auch in der Schweiz berichten immer mehr Frauen von traumatischen Erfahrungen während der Geburt. Dennoch dauerte es bis in die frühen 2000er-Jahre, bis diese Form der genderbasierten Gewalt erstmalig als eine Form von Gewalt anerkannt wurde und Aufmerksamkeit erhielt.

Venezuela (2007) und Argentinien (2009) gehören zu den ersten Ländern, die Geburtsgewalt als Rechtsverletzung anerkannten und begannen, sie zu sanktionieren. Es folgten Bolivien, Panama und Mexiko. Nahezu zeitgleich begann die Wissenschaft, sich für das Phänomen zu interessieren und trug durch Generierung von Evidenz zu einem tieferen Verständnis und Schaffung von Bewusstsein für die Problematik bei.

Geburtshilfliche Gewalt umfasst ein weites Spektrum von Handlungen oder Unterlassungen durch medizinisches Personal im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt, die die Würde der Gebärenden verletzen und ihr die Autonomie über den Geburtsprozess entziehen. Sie äussert sich u.a. in abwertenden Bemerkungen, Beschimpfungen oder Drohungen bis hin zu Schlägen, durch unnötig schmerzhafte medizinische Eingriffe, Behandlungen ohne Einverständnis der Gebärenden oder auch ganz subtil durch die Orientierung des Geburtsprozesses entsprechend der Interessen des Gesundheitspersonals. Gibt es keine Möglichkeit für die Gebärende, zwischen Geburtspositionen zu wählen oder eine selbst gewählte Begleitperson an der Seite zu haben, ist dies ebenfalls Gewalt gegen Gebärende, genauso wie jede weitere Form der Nicht-Beachtung oder Nicht-Berücksichtigung der Bedürfnisse der Gebärenden.

Geburtshilfliche Gewalt umfasst ein weites Spektrum von Handlungen oder Unterlassungen durch medizinisches Personal im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt, die die Würde der Gebärenden verletzen und ihr die Autonomie über den Geburtsprozess entziehen.
Informationsmaterial in Geburtsstationen zu den Rechten von Gebärenden. Foto: © IAMANEH
Informationsmaterial in Geburtsstationen zu den Rechten von Gebärenden. Foto: © IAMANEH

Gewalt im Geburtssaal - eine Folge systemischer Machtungleichheiten

Gewalt im Geburtssaal ist systemisch bedingt. Ansätze, die die Gründe primär oder ausschliesslich beim Gesundheitspersonal verorten, greifen zu kurz, sind wenig nachhaltig und allgemein fehl am Platz. Sicher, es gibt Fälle von geburtshilflicher Misshandlung und Gewalt, die interpersonell bedingt sind. Grundsätzlich sind aber auch Geburtshelfende Opfer: von strukturellen Rahmenbedingungen, in denen es an ausreichendem und qualifiziertem Personal fehlt, in denen die Bezahlung ihrer medizinischen und sozialen Verantwortung nicht gerecht wird, oder in denen Geburtsräume so konzipiert und ausgestattet sind, dass sie keinen Raum für selbstbestimmte Geburten ermöglichen. Zudem: Wo gewaltvolle Behandlung gegen Gebärende als gängige Praxis akzeptiert ist und nicht in Frage gestellt wird, führt dies nicht selten zu einer Demoralisierung von Geburtshelfenden, die Zeuge einer solchen Praxis durch Vorgesetzte werden.

Vor allem aber ist geburtshilfliche Gewalt Ausdruck und Folge eines Machtgefälles - zwischen medizinischem Personal und Gebärenden. Einerseits bedingt durch die medizinische Professionalisierung und Institutionalisierung der Geburt und der damit einhergehenden Hierarchisierung der Gesundheitsarbeit. Vor allem aber durch ein System, das allein dem medizinischen Personal die Entscheidungsgewalt und Autorität über den Geburtsprozess zuschreibt. Dahinter steht das hehre Ziel, die mit der Geburt verbundenen Risiken zu reduzieren. Damit einher geht jedoch eine Ent-humanisierung der Geburt, eine Entmündigung der Gebärenden. Statt sich an ihren Bedürfnissen und ihrem körperlichen und seelischen Wohlbefinden zu orientieren, dient Geburtshilfe so der Anpassung von Geburten an die Vorstellungen, Möglichkeiten und Vorgaben eines Systems.

Vor allem aber ist geburtshilfliche Gewalt Ausdruck und Folge eines Machtgefälles - zwischen medizinischem Personal und Gebärenden. Einerseits bedingt durch die medizinische Professionalisierung und Institutionalisierung der Geburt und der damit einhergehenden Hierarchisierung der Gesundheitsarbeit.

Aber auch Geschlechterbeziehungen spielen eine Rolle, insbesondere dort, wo Geburtshilfe männlich dominiert ist. Und: Gewalt im Geburtssaal ist intersektional: junge Gebärende, Gebärende bestimmter ethnischer oder sozio-ökonomischer Herkunft, sexuelle Identität, ledige oder körperlich eingeschränkte Gebärende erleben überdurchschnittlich mehr Gewalt und Respektlosigkeit durch medizinisches Personal.

Training von Gebursthelfenden in Togo in inklusiver humanisierter Geburt. Foto: © IAMANEH<br>
Training von Gebursthelfenden in Togo in inklusiver humanisierter Geburt. Foto: © IAMANEH

Geburtshilfliche Gewalt wirkt dem internationalen Ziel der sicheren Geburt entgegen

Die physischen und psychischen Auswirkungen der Einpassung von Geburten in diesen vorgegebenen Rahmen sind weitreichend und wirken dem hehren Ziel, Geburt sicherer im Sinne von «gesünder», zu machen, diametral entgegen, insbesondere dort, wo medizinische Notfalldienste schlecht zugänglich sind: Die physischen Verletzungen und oftmals traumatischen Erlebnisse veranlassen viele Schwangere dazu, sich bewusst gegen eine institutionelle Geburt zu entscheiden. Sie nehmen Risiken in Kauf, um schlechter Behandlung und durch Gesundheitspersonal zu entgehen.

Um Geburten sicher und im Sinne der Gesundheit und des Wohlbefindens der Gebärenden, der Neugeborenen und ihres Umfelds - auch langfristig - positiv zu gestalten, braucht es deshalb weltweit und auch in der Schweiz, die sich mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention verpflichtet hat, die Missachtung der Rechte und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, ein klares Bekenntnis gegen Gewalt in der Geburtshilfe.

Um Geburten sicher und im Sinne der Gesundheit und des Wohlbefindens der Gebärenden, der Neugeborenen und ihres Umfelds - auch langfristig - positiv zu gestalten, braucht es deshalb weltweit und auch in der Schweiz, die sich mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention verpflichtet hat, die Missachtung der Rechte und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, ein klares Bekenntnis gegen Gewalt in der Geburtshilfe. Dazu gehören insbesondere:

  • ein Umdenken in Bezug auf die gesellschaftliche Bedeutung von Geburtshilfe und der Rolle und Verantwortung von Geburtshelfenden und damit eine Aufwertung von Geburtshelfenden;
  • eindeutige, rechtliche Sanktionierungsmöglichkeiten von geburtshilflicher Gewalt;
  • kompetente Beschwerdestellen;
  • Investments in die institutionellen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen, in denen Geburt stattfindet, sowie
  • In die Qualität und Quantität von Geburtspersonal.

Darüber hinaus ist es essenziell, dass im Rahmen der Aus- und Weiterbildung von medizinischem Personal der Blick auf den sensiblen Umgang mit der eigenen Machtposition gewendet wird. Wer sich dieser Ausgangslage bewusst ist und in einem Rahmen agiert, der die medizinische und soziale Verantwortung des geburtshilflichen Personals anerkennt, kann auf eine empowernde Zusammenarbeit im Geburtssaal hinwirken, die den Gebärenden Autonomie und Kontrolle über den Geburtsprozess zurückgibt und die Geburt zu einem positiven Erlebnis macht.

Alexandra Nicola
Alexandra Nicola, Co-Geschäftsführerin von IAMANEH Schweiz und Programmverantwortliche für IAMANEHs Programm in Togo. IAMANEH setzt sich in Togo zusammen mit der lokalen NGO AFAD und in enger Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium und dem nationalen Hebammenverband dafür ein, dass respektvolle Geburtshilfe und die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Gebärpositionen in das Curriculum der Hebammenausbildung aufgenommen und als nationaler Standard verankert werden. Email: anicola@iamaneh.ch