Von Bernard Borel
„Primary Health Care - Now More Than Ever” – das war der Name des Weltgesundheitsberichtes der WHO 2008, der thematisch das 30-Jahrjubiläum der Deklaration von Alma-Ata aufgriff. Die Weltgesundheitsorganisation erinnerte daran, dass Gesundheit ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens ist, und dass die Gesundheitsförderung und der Gesundheitsschutz eine absolute Bedingung für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ist. Die Regierungen stehen dabei in der Verantwortung: Sie müssen den gesundheitlichen und sozialen Schutz sichern, schreibt Dr. Bernard Borel.
Die Deklaration von Alma-Ata beruht unter anderem auf den Erfahrungen der Barfussärzte. Diese chinesischen Bauern wurden durch ihre Gemeinde ausgewählt, um sich in rund sechs Monaten medizinisch so weit ausbilden zu lassen, um auf die wesentlichen Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung reagieren zu können. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts waren es über 1,5 Millionen Barfussärzte, die nicht nur gängige Krankheiten behandelten, sondern sich auch mit Themen der Hygiene, der Ernährung und mit dem Abwassersystem beschäftigten. Dieses Modell hat seine Wirksamkeit bewiesen, und es war damals von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. So hat auch die Weltgesundheitsorganisationen (WHO) die Basisgesundheitsversorgung als essentielle Form der Gesundheitsversorgung verstanden, die für alle zugänglich sein und deren Organisation von den lokalen Gemeinschaften garantiert werden muss. Sie stellt für Familien den ersten Kontakt zum nationalen Gesundheitssystem dar und das Personal muss fähig sein, im Team zu arbeiten und auf die durch die Gemeinschaft zum Ausdruck gebrachten Bedürfnisse zu reagieren. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Schutz von Mutter und Kind, aber auch auf der Abwassersanierung und dem Zugang zu Trinkwasser.
Eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen, aber auch Regierungen wie die Portugiesische nach der Nelkenrevolution von 1974, haben sich zu diesem Konzept bekannt. Nimmt man die zentralen Gesundheitsindikatoren als Massstab, konnte Portugal innerhalb von nur fünfzehn Jahren gesundheitlich an das übrige Europa aufschliessen – dies dank einer Basisgesundheitsversorgung, die darauf beruhte, dass durch die Registrierung bei einem Arzt, dieser den ersten Zugang zum Gesundheitssystem sicherstellte. Dies bedeutete für das Land einen offenkundig sozio-ökonomischen Sprung nach vorne. Nicaragua hat es in den 80er Jahren mit einem vergleichbaren Konzept geschafft, die Kindersterblichkeit um den Faktor zwei zu reduzieren. (vgl Text im Kasten) So hat auch Kuba, dessen Gesundheitssystem ebenfalls auf der Basisgesundheitsversorgung beruht, hohe Bewunderung und Anerkennung durch die internationalen Instanzen erfahren hat, nachdem deren Escuela Latinoamericana de Medicina (ELAM) tausende von ÄrztInnen aus allen Kontinenten mit diesem Ansatz ausgebildet hatte.
Auf den Spuren von Alma-Ata : Persönliche Erfahrungen in der Basisgesundheitsversorgung in Nicaragua 1981-1983
Bericht von Bernard Borel
Ich habe in den 80er Jahren in Nicaragua gelebt und als Arzt bei Basisgesundheitsprogrammen mitgewirkt, die von der sandinistischen Regierung implementiert wurden. Ich wurde in einer Kaffeeplantagenzone nahe der Hauptstadt eingesetzt, um einen Sektor zu organisieren. Mir standen ein Fahrzeug, ein Chauffeur und ein Krankenpfleger zur Verfügung. Ich organisierte regelmässige medizinische Visiten in den verschiedenen Dörfern. Es gelang mir, mindestens einen halben Tag alle zwei Wochen jeweils an einem Ort tätig zu sein. Dadurch erlangte ich das Vertrauen der Bevölkerung und konnte mit Unterstützung der Dorfgemeinschaften, die sog. „brigadistas de salud (Gesundheitsbrigaden)“ als lokale Community Health Workers, einsetzen.
Ich habe so 1981 über 20 Personen ausgebildet, die Verantwortung für rudimentäre Gesundheitsprobleme übernehmen konnten: Dazu gehörten die Behandlung von Durchfallerkrankungen mit oraler Dehydration, die zu jener Zeit bei der Bevölkerung auf Widerstand stiess. Das Spektrum reichte über Malariabehandlungen bis zur frühzeitigen Feststellung von Lungenentzündungen oder Tuberkulose durch das regelmässige Sammeln von Auswurf bei Menschen, die mehr als 3 Wochen husteten. Ein wichtiger Teil der Ausbildung bestand in der grundlegenden Präventionsarbeit: Sauberes Wasser, Latrinenbau, Ernährung oder unter anderem die regelmässige Entwurmung bei Kindern. Bei meinen Besuchen konnte ich diese Gesundheitsbrigaden überwachen, ihr Wissen vertiefen, ihre Entscheidungen validieren und gemeinsam mit politischen EntscheidungsträgerInnen über die Verbesserung der Infrastruktur diskutieren. Diese Gesundheitsbrigaden wurden zudem, während der regelmässigen Impfkampagnen als lokale Verbindungsleute eingesetzt, welche die Familien in den Tagen vor den Kampagnen informierten und in der Teilnahme bestärkten. Sie organisierten den Ort für die Durchführung der Impfung und ging dann von Tür zu Tür, um sicherzustellen, dass alle Kinder geimpft wurden. Ohne diese Unterstützung hätten wir das Ziel, kein Kind ohne Impfschutz zu lassen, nie erreichen können.
Atelier pour les promoteurs de la santé: les signes vitaux. Union Paysanne Indigène Indépendante du Sud au Guatemala. Photo: © Madre Tierra Mexico
Man muss unterstreichen, dass es in der ganzen Region ÄrztInnen wie mich gab, die eine „servicio social“ leisteten und deren Hauptaufgabe darin bestand, die Gesundheitsbrigaden auszubilden. Dabei half uns ein Leitfaden, der auf die lokalen Gegebenheiten zugeschnitten war.
Das Programm „Basisgesundheitsversorgung – Gesundheit für alle“ wurde von verschiedenen staatlichen Organen getragen, von welchen auch ich als Ausländer immer die notwendige Unterstützung erhalten habe – sei es nun durch die lokale Polizei, durch militärische Strukturen oder aber auch von lokalen Abteilungen des Ministeriums für Agrarreform, die nie zögerten, mir Fahrzeuge mit Chauffeur und Brennstoff oder Versammlungsräume zur Verfügung zu stellen.
Diese international begrüsste Strategie beruhte auf dem kubanischen Vorbild. Dieses war entscheidend dafür, dass in einem Jahrzehnt die Kindersterblichkeit von 68 % auf 35% zurückging – und dies trotz eines Aggressionskrieges, der von den USA angezettelt und finanziert wurde, was aber eine andere Geschichte ist.
Im Jahr 2018 verhält sich die WHO viel zurückhaltender gegenüber der Basisgesundheitsversorgung. Unter dem Druck von Restrukturierungsprogrammen wurden in den 80er Jahren sogenannte „Userfees“ propagiert und eingeführt und die Verantwortung des Staates zurückgedrängt. Angezettelt wurden die Restrukturierungsprogramme vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank (oder später dann im Falle Griechenlands von der europäischen Zentralbank), um die öffentlichen Ausgaben zu verringern und die von den gleichen Instanzen propagierten Schulden zurückzuzahlen. Weil die Gesundheitsprobleme immer deutlicher zutage traten, wurden vertikale Programme ins Leben gerufen, die sich wie im Fall von GAVI (grossteils durch die Bill- und Melinda-Gates-Stiftung finanziert) ausschliesslich auf Impfkampagnen oder im Fall des Globalen Fonds auf den Zugang zu Medikamenten gegen Tuberkulose, Aids und Malaria konzentrierten. Diese Programme entstanden parallel zu bestehenden, oft serbelnden Gesundheitssystemen ohne diese jedoch zu stärken. Und sie schwächten die Staaten und erfreuten die Pharmaindustrie, für welche sich die Märkte exponentiell öffneten. Ist das Konzept der Basisgesundheitsversorgung 2018 also überholt?
Angesichts des vordringlichen Problems der nicht-übertragbaren Krankheiten, die eine andauernde Pflege und Behandlung notwendig machen und angesichts dessen, dass in den medizinischen Ausbildungen die patientenzentrierte Versorgung propagiert wird, ist die Basisgesundheitsversorgung notwendiger denn je. Wichtig ist jedoch sich von einer auf die Spitäler zentrierten Logik, einer Logik der Fragmentierung der Pflege und ihrer Vermarktung zu verabschieden. Doch ich stelle fest, dass dies nicht dem aktuellen Trend entspricht.
Die Basisgesundheitsversorgung bleibt fraglos die beste Art, um sich um die Gesundheit der Menschen zu kümmern, doch muss dies mit der Forderung nach einer umfassenden Gesundheitsversorgung, mit der Regulation von Medikamentenpreisen und der Anerkennung der Verantwortung des Staates einhergehen. Vor allem dann, wenn dieser sich als demokratisch und solidarisch versteht.
Natürlich beschäftigt mich die Entwicklung der Gesundheitssysteme – auch das in der Schweiz. Und aus dieser Perspektive stelle ich fest, dass ohne Widerstand einer breiten Öffentlichkeit, die Zweiklassenmedizin in einer sehr nahen Zukunft auch in Europa und gerade auch in der Schweiz zur Realität werden wird.