Unbehindert von marktbeherrschenden Patenten ausländischer Multis ist in Indien eine leistungsfähige eigene Pharmaindustrie entstanden. So werden beispielsweise Aids- Medikamente selber hergestellt und viel billiger verkauft als die Originalpräparate aus dem Ausland. Das ist für das Land lebenswichtig, denn in Indien gibt es laut offiziellen Schätzungen 3,5 Millionen HIV-positiver Menschen - weltweit die höchste Zahl. Nimmt man die Dunkelziffer dazu, so ist die Situation noch weit dramatischer.«Acht Millionen Menschen dürften in Indien HIV-positiv sein», erklärt der indische Arzt Raman Shetty. Besonders rasch breitet sich die Epidemie in den Rotlichtvierteln der Millionenstadt Mumbai (vormals Bombay) aus. Vor wenigen Jahren waren die Pflegekosten mit weit über tausend Franken pro Monat mehr als doppelt so hoch wie heute. Doch dann brachte Cipla Ltd., eine traditionsreiche indische Pharmafirma, 1993 das Aids-Medikament Zidovudin auf den Markt. Es folgten Stavudin und 1998 Lamivudin. Sie alle sind Elemente der erfolgreichen virushemmenden Kombinationstherapie. Cipla bot die Aids-Medikamente massiv billiger an. Das provozierte wiederum Preissenkungen der internationalen Konkurrenz auf dem indischen Markt. Heute kostet eine 10-er Packung von 100-Milligramm-Kapseln Zidovudin von Cipla in Indien sieben Franken (150 Rupien), während das Originalprodukt der britischen Glaxo Wellcome in Indien, Pakistan und Indonesien für mehr als das Doppelte, in den Vereinigten Staaten und in Grossbritannien für das Fünf- Sechsfache vermarktet wird. Nevirapin, das demnächst von Cipla lanciert wird, verspricht eine äusserst kostengünstige Verhinderung der Übertragung von einer HIV-positiven Mutter auf ihr Baby.

Aber jetzt sind die Erfolge der indischen Medizin in Gefahr. Die neuen Patentschutzregeln der Welthandelsorganisation (WTO) stehen im Dienste der Pharma-Multis aus den Vereinigten Staaten, Grossbritanniens, der Schweiz und bedrohen die indischen Errungenschaften. Für patentierte Profite bezahlen die Patienten im Falle von Aids mit ihrem Leben. Werden Indien und andere Entwicklungsländer sich dem Druck aus dem Norden beugen?

«Rekolonisierung»

Der weltweite Patentschutz scheint sich nun überall durchzusetzen – auch gegen die Interessen der Entwicklungsländer. Vehikel in diesem Kreuzzug der Industrieländer für einen globalen Patentschutz ist das Vertragswerk «TRIPS» («Trade Related Intellectual Property Rights») der WTO. Es schreibt weltweit minimale Standards für den Patentschutz fest. Kein Land, das marktwirtschaftlich orientiert ist und sich in die Weltwirtschaft integrieren will, kommt an einer WTO-Mitgliedschaft vorbei. So müssen alle die TRIPS-Kröte schlucken. «Das Patentrecht der WTO steht für eine Rekolonisierung der wirtschaftlich schwachen Länder», sagt Subhash K. Hira, Direktor des Aids Forschungs- und Kontrollzentrums (ARCON). «Es ist ein Hindernis im Kampf gegen die Aids-Epidemie. Die wirtschaftlichen Spielregeln sind mit Schuld daran, wenn heute Leute sterben», Indien ist 1995 WTO-Mitglied geworden und muss die neuen TRIPS-Regeln im Pharmabereich in der nationalen Patentgesetzgebung bis spätestens am 1. Januar 2005 umsetzen. Erste Schritte hat die Regierung mit dem Patenterlass von 1999 bereits gemacht, deren Verfassungkonformität vor dem obersten Gerichtshof allerdings bestritten wird. Die US-Arzneimittelhersteller bezeichnen Indien noch immer als «Zentrum kommerzieller Piraterie», was die US-Pharmafirmen jährlich 500 Millionen Dollar koste. Nihchal H. Israni vom Indischen Arzneimittelhersteller-Verbandes (IDMA) sieht schwarz, falls die indische Regierung nicht wirksam Gegensteuer gibt. «Die indischen Firmen werden vom Markt verdrängt und multinationale Anbieter werden mit weit höheren Preisen den Markt beherrschen. Arbeitsplätze gehen verloren, und Indiens Handelsbilanz wird bei den Medikamenten defizitär - kurzum, es drohen Zustände wie vor dem Patentgesetz von 1970.» Israni appelliert an die indische Regierung, die in den internationalen TRIPS-Regeln noch vorhandenen nationalen Gestaltungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen und insbesondere wirksame Zwangslizenzen vorzusehen.

Erfolgsstory

Im Grunde wäre die indische Arzneimittelindustrie eine Erfolgsstory. Im Sektor finden in rund 20 000 Betrieben 500 000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Der Produktion vor- und nachgelagert dürften es weitere 2,5 Millionen Arbeitsplätze sein. Die Medikamentenpreise sind in den letzten 15 Jahren im Vergleich zum allgemeinen Preisniveau weit unterdurchschnittlich gestiegen. «Weltweit ist Indien ein Tiefpreisland für Arzneimittel bei hoher Qualität der Produkte», stellt Verbandspräsident Israni nicht ohne Stolz fest. Von 100 000 HIV/Aids-Patienten sind in Indien höchstens fünfhundert in medizinischer Behandlung. Sexualität und damit Aids sind tabuisiert. Es fehlt allenthalben an Spitälern und Gesundheitsstationen, an Personal, an medizinischer Ausrüstung, an Medikamenten. Die Kosten einer Aids-Kombinationstherapie sind mit über fünfhundert Schweizer Franken pro Monat prohibitiv hoch. Obligatorische Krankenkassen gibt es nicht. Aids ist in Indien besonders in ärmeren Schichten verbreitet. Diese leben oft von Gelegenheitsarbeiten. Ein Einkommen von 100 bis 150 Franken pro Monat muss für alles Lebensnotwendige ausreichen. Vielfach sind in einer Familie zwei Personen infiziert, doch genügen die Ersparnisse bestenfalls für eine Behandlung.

«Obschon Frauen und Männer gleichermassen von HIV/Aids betroffen sind, sind 85 Prozent unserer Patienten Männer. Von der indischen, partiarchalischen Kultur her erhalten sie Vorrang. In zweiter Linie zählt das Kind. Die Frauen opfern sich auf für die Anderen», beschreibt Dr. Subhash K. Hira, Direktor des Aids Forschungs- und Kontrollzentrums (Arcon) in Mumbai, den Arbeitsalltag. Unwissen und Armut sind die wichtigsten Ursachen dafür. Oft sterben Aids-Kranke an der in Indien noch weit verbreiteten Tuberkulose, weil ihnen die Abwehrkräfte fehlen. In den Vereinigten Staaten und in Europa ist die Zahl von HIV/Aids-Toten rückläufig. Auch in der Schweiz sanken die Aids-Sterbefälle dramatisch vom Höchststand 686 (1994) auf weit unter hundert (1999). Das ist in erster Linie auf die bahnbrechende, medikamentöse Kombinationstherapie zurückzuführen, die den Lebenszyklus des HI-Virus stört. Die disziplinierte Einnahme einer Kombination von Arzneimitteln kann den Ausbruch von Aids verhindern oder zumindest über Jahre verzögern. Insbesondere einer Übertragung von der Mutter auf das neugeborene Kind kann mit geeigneten Medikamenten vorgebeugt werden.

Im berühmten Report des amerikanischen Senators Kefauver von 1961 wird Indien noch als «eines der Länder mit den weltweit höchsten Pharmapreisen» erwähnt. Die Selbstversorgung mit Medikamenten liegt heute bei über siebzig Prozent des indischen Marktes trotz der seit 1991 von Indien verfolgten Politik der wirtschaftlichen Öffnung. Indien ist heute ein Nettoexporteur im Pharmabereich. Das Erfolgsgeheimnis: Das indische Patentgesetz von 1970. Indien war in die Unabhängigkeit mit dem Patentsystem der britischen Kolonialherren gestartet. Dieses sicherte den indischen Markt für die britische Industrie, die Arzneimittel wurden grösstenteils aus dem Ausland importiert, die lokale Produktion war unter 30 Prozent. Der «Architekt» des Patentgesetzes von 1970, S. Vedaraman, damals Direktor des indischen Patentamtes, fasst den Grundgedanken so zusammen: «Wir sind nicht gegen Patente. Wir sind auch bereit, anständige Lizenzgebühren zu bezahlen. Aber wir können uns in Indien keine Monopole leisten.»

So kannte Indien seitdem keine Produktpatente mehr auf Arzneimitteln, nur Fabrikationsprozesse konnten für sieben Jahre patentiert werden. Zudem sah das Gesetz vom Staat automatisch erteilte Zwangslizenzen vor, wenn der Patentinhaber nicht freiwillig Lizenzen zu fairen Bedingungen erteilte. Indien kam eine breite Schicht gut ausgebildeter Fachleute zugute, welche die neuen Chancen zu nutzen wussten.

Bei der multinationalen Pharmaindustrie stiessen diese Bestrebungen auf wenig Gegenliebe. Dabei wurde in vielen Industrieländern der Erfindungsschutz durch Patente erst in den letzten dreissig Jahren ausgebaut. Insbesondere die Schweizer Chemie bekämpfte Ende des 19. Jahrhunderts den Erlass eines Patentgesetzes, um ungehindert ausländische Medikamente wie zum Beispiel Aspirin nachzuahmen. Im deutschen Reichstag galt die Schweiz als «Raubritterstaat», in Frankreich als «Land der Fälscher». Produkte-Patente auf Medikamenten kennt die Schweiz erst seit 1978.

Doch die Interessenlage ist klar. Technologieexporteure profitieren vom Patentschutz, der sie vor Billigkonkurrenz schützt. Technologieimporteure, also die meisten Entwicklungsländer, wollen möglichst ungehindert und kostengünstig Zugang zu technischen Neuerungen und somit keinen Patentschutz, der monopolistische Barrieren errichtet.

Vom weltweiten Medikamentenmarkt mit US$ 350 Milliarden Umsatz machen Indiens US$ 3 Milliarden knapp ein Prozent aus. Eine Milliarde Inderinnen und Inder geben im Jahr gleichviel für Arzneimittel aus wie 7 Millionen Schweizerinnen und Schweizer. "Was wir in Indien an Medikamenten verbrauchen, kostetet weniger als der ausgewiesene Reingewinn von Novartis im vergangenen Jahr", vergleicht Nihchal H. Israni, Präsident der indischen Arzneimittelhersteller-Vereinigung (IDMA). "Weshalb kann der Norden dem Süden nicht jene liberale Eigenständigkeit im Erfindungsschutz zugestehen, welche insbesondere die Schweiz über Jahrzehnte beansprucht und zu ihren Gunsten genutzt hat?"

Richard Gerster, früherer Geschäftsleiter der Arbeitsgemeinschaft Swissaid / Fastenopfer / Brot für alle / Helvetas / Caritas, ist heute als unabhängiger Konsulent für die Schweizerische Regierung, Nichtregierungsorganisationen sowie die Weltbank tätig. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Nord-Süd-Aspekten des Patentrechts. Mit dem vorliegende Text von Richard Gerster, der bereits in der Weltwoche veröffentlicht wurde, wird die Reihe von Beiträgen zum Thema "WTO und Gesundheitsversorgung" fortgeführt..