Freiheit, Recht und Assimilation: Die Rolle der UNO im postkolonialen Diskurs
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Die Nachkriegszeit und der gemeinsame Wunsch nach Freiheit

Als am 8. Mai 1945 nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Kriegsherrschaft die europäischen Friedensglocken das Ende des Zweiten Weltkriegs einläuteten, befanden sich die Alliierten Mächte bereits in den Nachkriegsverhandlungen zur Demilitarisierung Deutschlands und der politischen und territorialen Neuordnung Europas und der Welt. Angesichts der verheerenden Auswirkungen des Krieges richteten sich die Nachkriegsverhandlungen auch auf die Schaffung von Strukturen, die zukünftiges Leid in vergleichbarem Ausmass verhindern sollten. So wurde die Gründung der Vereinten Nationen (UNO) beschlossen – einer völkerrechtlichen Organisation, die sowohl den Weltfrieden sichern, als auch die Zusammenarbeit zwischen den Staaten fördern sollte. Es sollte sich um ein ausgesprochen liberales Projekt handeln, als Grundlage für eine neue, inklusivere Werteordnung, in der allen Völkern Schutz, sowie die Möglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln ermöglicht würde.

Diese Ansprüche verleihen der UNO bis heute eine bedeutende emanzipatorische Kraft, insbesondere im Kontext bewaffneter Konflikte, der Entwicklungszusammenarbeit oder bei der weltweiten Förderung des Menschenrechtsdiskurses. Und dennoch äussert eine Minderheit von Rechtsgelehrten, insbesondere aus dem globalen Süden, Kritik an der UNO und den ihr zugrunde liegenden Strukturen. Während sie der UNO die Fähigkeit, marginalisierte Gruppen schützen zu können, grundsätzlich nicht absprechen, kritisieren sie die strukturelle Basis des Völkerrechts und die Rolle der UNO als zentrale Normsetzungsinstanz für alle Staaten. Sie liefern eine Perspektive, die das emanzipatorische Potenzial des Völkerrechts auf die Probe stellt.

Foto von Niklas Jeromin/pexels
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Für Kritiker ist klar: Eine universelle Rechtsgültigkeit setzt eine gemeinsame Wertebasis voraus, bei der nur eine Perspektive dominieren kann – nämlich jene des Westens.


Die UNO als Hüterin des Freiheitsversprechens

Die Basis des Völkerrechts bildet die völkerrechtliche Verpflichtungsgrundlage, das heisst, die allgemein etablierte Vorstellung der Existenz einer rechtlich-politischen Weltordnung. Im heutigen System kommt dies im Konsens der Staaten, dem sogenannten «positiven Recht» zum Ausdruck (Krajewski, M., 2019). Gerade dieses ermöglichte den Staaten die Schaffung der UNO und ihrer Organe. Parallel dazu steht der Rechtsliberalismus, eine Philosophie, die dem Völkerrecht die Fähigkeit zuschreibt, eine universelle Rechtsstaatlichkeit - also ein System von weltweit akzeptierten und für alle Staaten gleichermassen verbindliche Normen - zu schaffen.

Konzepte wie Selbstbestimmung, demokratische Freiheit und Menschenrechte tragen wesentlich zur Stärkung dieser Rechtsstaatlichkeit bei, während die UNO die Hauptverantwortung für deren Verbreitung trägt (Chimni, BS., 2012). Die UNO hat damit also den Auftrag erhalten, Strukturen zu schaffen, die jene universelle Rechtsstaatlichkeit ermöglichen. In der «traditionellen» Interpretation der Befürworter des positiven Rechtsliberalismus wird die UNO als Beschützerin des Freiheitsversprechens und als zentrales Organ für die Schaffung einer vereinten, freien Welt betrachtet. Für Kritiker ist klar: Eine universelle Rechtsgültigkeit setzt eine gemeinsame Wertebasis voraus, bei der nur eine Perspektive dominieren kann – nämlich jene des Westens.

Aus postkolonialer Perspektive zeigt sich deutlich, dass sich das Völkerrecht im Spagat zwischen der Legitimation eines universellen Diskurses und der Anerkennung kultureller Vielfalt schwer tut. Dies zeigt besonders das Beispiel indigener Völker im Völkerrecht.

Bestimmen westliche Normen die «freie» Welt?

Kritik an der traditionellen Auslegung wurde erstmals in den 1980er Jahren von den bis heute aktiven Harvard-Bewegungen “New Approaches to International Law” (NAIL) und “Third World Approaches to International Law” (TWAIL) laut. NAIL-Verfechter argumentieren, dass das Völkerrecht in seinem traditionellen Vokabular von Staaten und souveränen Rechten gefangen sei. Diese Fixierung schränke nicht nur den juristischen Diskurs ein, sondern schliesse auch alternative Perspektiven aus, die die vorherrschende Rhetorik infrage stellen könnten (Kennedy, D., 2000). TWAIL, eine Bewegung von Rechtsgelehrten aus dem Globalen Süden, geht einen Schritt weiter: Sie sieht das Problem nicht nur in der Starrheit der Sprache, sondern vor allem in der historisch begründeten, tiefgreifenden Prägung des modernen Völkerrechts durch eurozentrische Werte. Diese bewirken, dass Konzepte, die eng mit der westlich-europäischen Denktradition verbunden sind, den völkerrechtlichen Diskurs dominieren.

Laut TWAIL hindere dies das Völkerrecht und die UNO daran, die kulturelle Vielfalt der heutigen Gesellschaften angemessen zu reflektieren. Stattdessen werde das moderne Völkerrecht zu einem Instrument der Assimilation, bei dem westliche Ideologien global verankert würden, ohne einen Raum für echte Vielfalt zu schaffen (Sunter, Andrew F., 2007). Ob als pragmatische Lösung zur Umsetzbarkeit einer universellen Rechtsstaatlichkeit oder – wie TWAIL-Kritiker argumentierenden – als Ausdruck der politischen Macht einflussreicher westlicher Staaten; aus postkolonialer Perspektive zeigt sich deutlich, dass sich das Völkerrecht im Spagat zwischen der Legitimation eines universellen Diskurses und der Anerkennung kultureller Vielfalt schwer tut. Dies zeigt besonders das Beispiel indigener Völker im Völkerrecht.

Das Narrativ des globalen Schutzes und der Gerechtigkeit scheint es der UNO also zu ermöglichen, ein Normensystem zu bewahren, welches sie als universell gültig und korrekt erachtet. Wie das Beispiel der indigenen Völker verdeutlicht, scheint dieser Schutz jedoch seinen Preis zu haben – und dieser Preis heisst Assimilation.
Vorbereitungen in L.A. für den ersten Tag der indigenen Völker. Foto: Luke Harold/ flickr.com; CC0 1.0 Universal
Vorbereitungen in L.A. für den ersten Tag der indigenen Völker. Foto: Luke Harold/ flickr.com; CC0 1.0 Universal

Schutz für indigene Völker - eine Frage der Assimilation?

Am 13. September 2007 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen nach einem dreissigjährigen Prozess die Deklaration über die Rechte der indigenen Völker. Diese nicht rechtsverbindliche Resolution definiert und grenzt die individuellen sowie kollektiven Rechte indigener Gemeinschaften ab. In der Präambel wird das Recht der indigenen Völker auf Entwicklung betont, und die Deklaration fördert die Zusammenarbeit zwischen Staaten und indigenen Gemeinschaften auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechten. Aus einer traditionellen Perspektive gilt dies als ein gelungenes Beispiel für das emanzipatorische Potenzial des Völkerrechts, insbesondere da indigene Völker über Jahrhunderte hinweg unter kolonialer Ausbeutung und territorialen Konflikten gelitten haben.

Im Rahmen postkolonialer Diskurse zeigen sich jedoch zwei zentrale Problematiken: Zum einen bleibt unklar, inwieweit die positiv-liberalen Konzepte von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Demokratie mit den Vorstellungen und Werten indigener Völker übereinstimmen. Dies impliziert, dass indigene Völker sich offenbar zunächst den universellen Normen anpassen müssen, um den benötigten Schutz zu erhalten. Zum anderen warnen Kritiker vor der Gefahr einer ‘Opfer-Retter’-Dynamik, in der sich der moderne, liberale Westen moralisch verpflichtet sieht, eine allgemeingültige Rechtsordnung zu schaffen, um diese Kulturen zu schützen. Solche Dynamiken tragen aus postkolonialer Sicht zur Bestätigung und Aufrechterhaltung bestehender Machtungleichgewichte bei und gefährden die Handlungsfähigkeit nicht-westlicher Kulturen. Das Narrativ des globalen Schutzes und der Gerechtigkeit scheint es der UNO also zu ermöglichen, ein Normensystem zu bewahren, welches sie als universell gültig und korrekt erachtet. Wie das Beispiel der indigenen Völker verdeutlicht, scheint dieser Schutz jedoch seinen Preis zu haben – und dieser Preis heisst Assimilation.

Die Schweiz kann in diesem komplexen Spannungsfeld eine bedeutende Rolle einnehmen. Durch ihre neutrale Position und diplomatische Erfahrung kann sie sich als Vermittlerin zwischen unterschiedlichen kulturellen und politischen Perspektiven anbieten.

Die Rolle der Schweiz im Umgang mit globalen Machtungleichgewichten

Die Schweiz kann in diesem komplexen Spannungsfeld eine bedeutende Rolle einnehmen. Durch ihre neutrale Position und diplomatische Erfahrung kann sie sich als Vermittlerin zwischen unterschiedlichen kulturellen und politischen Perspektiven anbieten. Dabei könnte sie über die herkömmlichen emanzipativen Konzepte wie Menschenrechte hinausgehen und darauf hinwirken, dass globale Normen nicht allein durch westliche Vorstellungen geprägt werden. Indem die Schweiz sich für die Einbeziehung vielfältiger, nicht-westlicher Sichtweisen in internationalen Foren wie der UNO einsetzt, könnte sie dazu beitragen, die Grenzen jener Konzepte zu erweitern. Gleichzeitig können Schweizer Organisationen gezielte Projekte fördern, die lokale Traditionen respektieren und nicht auf die Anpassung an westliche Normen drängen. So würde die Schweiz helfen, sicherzustellen, dass die globale Rechtsordnung auf einem breiteren, gerechteren Fundament steht, das die Vielfalt der Perspektiven anerkennt.


Referenzen
  • Chimni BS. Legitimating the international rule of law. In: Crawford J, Koskenniemi M, eds. The Cambridge Companion to International Law. Cambridge Companions to Law. Cambridge University Press; 2012:290-308. https://www.cambridge.org/core/books/abs/cambridge...
  • Kennedy, David. "When renewal repeats: thinking against the box." New York University Journal of International Law and Politics 32.2 (2000): 335-500.
  • Krajewski, Markus. Völkerrecht. Nomos Verlagsgesellschaft, 2019
  • Sunter Andrew F. "Twail as naturalized epistemological inquiry." Canadian Journal of Law & Jurisprudence 20.2 (2007): 475-507

Alan Briggs
Alan Briggs ist Scientific Operations Coordinator bei der Sight and Life Foundation und absolviert derzeit ein Postgraduiertenstudium in Global Health am Swiss Tropical and Public Health Institute in Basel. Zuvor erwarb er seinen Master in European Global Studies an der Universität Basel, wo er sich in seiner Abschlussarbeit mit der Rolle indigener Völker in den Vereinten Nationen aus der Perspektive der Postcolonial Studies befasste. E-Mail