Du, ich und alle, die es wollen
Die Sonne bringt es an den Tag. Foto: UIA/ Jahn Henne., CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons)

Auf dem von Medicus Mundi Schweiz organisierten Symposium im vergangenen Jahr erinnerten mehrere Vorträge daran, wie wichtig, wenn nicht gar dringend es ist, kollektiv zu handeln, um die menschliche Gesundheit zu schützen. Zwar standen sie im Kontext einer Reihe von Krisen und den damit verbundenen Herausforderungen, doch die Aussagen verwiesen (erneut) auf das Paradox des Auseinanderklaffens von bekannten, vollkommen rationalen kollektiven Interessen und individuellen Verhaltens, das in seiner Summe vom gewünschten Kurs wegführen kann.

Gehört "Gesundheit für alle" zu den Idealen, die im Spannungsverhältnis von individuellen Interessen und kollektivem Wohlbefinden stehen?

Um mich zu beruhigen, rief ich mir in Erinnerung, dass "wir alle mit unseren Widersprüchen leben". Das mag beruhigen, ist aber nicht befriedigend. Also erlaubte ich mir, das Problem der Vereinbarkeit von gemeinsamen Zielen mit dem persönlichen Egoismus unter die Lupe zu nehmen. Nachfolgend einige Aspekte dazu:


Gesundheit als gemeinsames Ziel

Ohne so weit zu gehen, auf Glückseligkeit oder auch nur Glück zu hoffen – auch wenn sich das letztlich alle wünschen[1] -, kann man sich die Frage nach dem Sinn unserer kollektiven Strukturen stellen.

Was sind die Ziele unserer menschlichen Gesellschaften? Was sind insbesondere die Ziele unserer Gesundheitssysteme, welche kollektiven Erwartungen formulieren wir an sie? "Man beweist, dass die ärztliche Kunst gut ist, weil sie für Gesundheit sorgt; aber wie ist es möglich, zu beweisen, dass Gesundheit gut ist?"[2] Gesundheit ist zweifellos "gut", wenn man tatsächlich mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit darin sieht, wie es in der vor 45 Jahren verabschiedeten Erklärung von Alma Ata heisst.[3]

Wenn wir uns auf ein (hehres) gemeinsames Ziel einigen können, nämlich das Erreichen eines möglichst hohen Gesundheitsniveaus, wie können wir dann sicherstellen, dass unser individuelles Verhalten dahingehend ausgerichtet ist, dass dieses Ziel auch tatsächlich erreicht wird?

Foto von 愚木混株 cdd20 auf Unsplash
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Widersprüchliche Verhaltensweisen

Wenn wir überlegen, welche Massnahmen ergriffen werden sollten, um die Gesundheitssituation in der Welt zu verbessern, kommen wir relativ schnell zu einem Konsens. Die nötigen Massnahmen und die zu erreichenden Ziele müssen nicht lange diskutiert werden. Pläne werden geteilt und breit kommuniziert. Doch wenn es um die Umsetzung geht, gewinnen die Interessen jedes Einzelnen oft die Oberhand, die Gewohnheiten kehren zurück ... und die angestrebten Fortschritte rücken wieder in weite Ferne. Wenn ich von "jedem Einzelnen" spreche, denke ich an jede Einheit, jeden Akteur des Systems ebenso wie an jedes Individuum. Zwar gibt es ein gemeinsames Ziel, aber die Arbeitsweise und die Anreize verhindern, dass die Bemühungen zusammenlaufen. Dabei geht es nicht nur um politische Differenzen, sondern vielleicht auch um die inhärenten und fundamentalen Widersprüche der menschlichen Natur.

Wer kennt sie nicht, die guten Vorsätze, die man zu Beginn des Jahres fasst und die sich, sobald der Alltag wieder einkehrt, extrem schwer mit den Zwängen und Gewohnheiten in Einklang bringen lassen?

Zu wissen, was man tun sollte, ja sogar zu entscheiden, was man tun möchte, bedeutet noch nicht, diese Ziele auch zu verwirklichen. Während dies auf individueller Ebene schwierig ist (auch wenn manche eine erfolgversprechende Disziplin für sich in Anspruch nehmen können), müssen wir uns eingestehen, dass auf kollektiver Ebene die als Antwort auf ein Problem mit Begeisterung formulierten Ambitionen nur sehr selten erreicht werden, sehr oft trotz vielfacher Anstrengungen und verschobener Fristen.

Im Gesundheitssektor kennen wir dieses Spannungsverhältnis zwischen Wünschenswertem und der Realität, zwischen dem, was wir kollektiv unternehmen müssen, und dem, was wir individuell umsetzen, zwischen dem, was wir aktuell wünschen, und dem, was möglicherweise erreicht werden kann, zwischen dem, was angestrebt wird, und dem, was erreicht werden kann, nur zu gut. Hier sei nur erinnert an "Gesundheit für alle im Jahr 2000"!

Zu wissen, was man tun sollte, ja sogar zu entscheiden, was man tun möchte, bedeutet noch nicht, diese Ziele auch zu verwirklichen. Während dies auf individueller Ebene schwierig ist (...), müssen wir uns eingestehen, dass auf kollektiver Ebene die als Antwort auf ein Problem mit Begeisterung formulierten Ambitionen nur sehr selten erreicht werden (...).
Foto von Nicole Baster auf Unsplash
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Die Beharrlichkeit eines Ideals

"... zweifellos sehnen sich Menschen nach Glück; und so unvollkommen ihre persönliche Handlungsweise auch sein mag, sie wünschen und loben jedes Verhalten, das andere ihnen gegenüber an den Tag legen, wenn sie glauben, dass es ihr eigenes Glück fördert." [2]

Die menschliche Gesundheit ist ein "Gemeingut", das, um bewahrt zu werden, anerkannt werden muss und gemeinsames Handeln erfordert. Die Verfolgung eines gemeinsamen Ideals übersteigt per definitionem die individuellen Interessen.

In diesem Sinne macht nur Zusammenarbeit zwischen Individuen, Gesellschaften und allen Tätigkeitsbereichen die von uns gewünschte positive Entwicklung möglich. Gemeinsamen Handeln bringt uns voran.

Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, meinte mit Bezug auf den Klimawandel: "Die Menschheit muss sich zwischen ‘Solidarität’ und ‘kollektivem Selbstmord’ entscheiden." Werden wir es schaffen, unsere Ideale und unser Handeln miteinander in Einklang zu bringen? Können wir die Ziele, die wir gemeinsam anstreben, erreichen?

Was die Gesundheit betrifft, fällt die Alternative wahrscheinlich weniger radikal aus. Zweifellos würde die globale Solidarität aber viele Leben retten! Ich kann meine Überlegungen nur so beschliessen: Wir müssen beharrlich bleiben und unser gemeinsames Ideal der weltweiten Gesundheit weiter verfolgen und so vielleicht zum Glück jedes Einzelnen beitragen.

Die menschliche Gesundheit ist ein "Gemeingut", das, um bewahrt zu werden, anerkannt werden muss und gemeinsames Handeln erfordert. Die Verfolgung eines gemeinsamen Ideals übersteigt per definitionem die individuellen Interessen.
Fussnoten
  1. Schon Aristoteles definierte Glück als "höchstes Gut", das Gut, auf das alle anderen ausgerichtet sind.

  2. John Stuart Mill, L’utilitarisme.

  3. "Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen."

Anmerkung
  • Titel entlehnt vom französischen Sänger Grégoire, 2008
Thomas Vogel
Thomas Vogel ist Gesundheitsökonom und Public Health Spezialist mit über 25 Jahren Berufserfahrung als Berater, Coach und Trainer. Er arbeitet sowohl als Projektleiter für den Service de médecine tropicale et humanitaire (SMTH) der Universitätspitäler Genf (HUG), als auch als unabhängiger Berater im Sozial- und Gesundheitsbereich. Er hat Projekte in Osteuropa, der GUS, verschiedenen afrikanischen Ländern, dem Nahen Osten und Südostasien begleitet. Die meisten der Entwicklungsprojekte, an denen er beteiligt ist, zielen auf die Stärkung der lokalen Gesundheitssysteme und deren Leistungsfähigkeit ab. Darüber hinaus hat bzw. hatte er verschiedene Lehrtätigkeiten an den Universitäten Lausanne, Genf, Neuchâtel, der Charité in Berlin, dem Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut, der Universität Basel und der Dubai Health Authority inne. 10 Jahre lang war er Vorstandsvorsitzender von Medicus Mundi Schweiz - einem Netzwerk von Schweizer NGOs, die in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit tätig sind. Er ist ausserdem Mitglied des Fachrats von Public Health Schweiz. Email