Ein krankmachender Industriezweig gibt nicht auf...
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Seit Jahrzehnten stossen die Warnungen der WHO auf taube Ohren

Ende Februar 2022 wurde in einem Bericht von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UNICEF (WHO, 2022) erneut auf das Problem der Säuglingsnahrung und den Skandal der Werbung mit oft krankmachenden Ersatzprodukten für Muttermilch hingewiesen. Als jemand, der sich seit Langem für öffentliche Gesundheit einsetzt, darunter sechs Jahre in einkommensschwachen Überseeländern, konnte ich beobachten, wie verheerend der Teufelskreis aus Infektionen und Unterernährung ist, der mit der Verwendung dieser Ersatzprodukte häufig einhergeht.

Seit den 1970er-Jahren hat dieses Phänomen, dem Tausende Kleinkinder zum Opfer fallen, Wellen geschlagen. 1974 beklagte die Weltgesundheitsversammlung (WHA) den allgemeinen Rückgang des Stillens. Neben anderen Vorfällen wurde damals ein grosser Konzern beschuldigt, «Babies zu töten». Zu dieser Zeit nahm ich mit anderen Mitgliedern des «Aktionärsbindungsvertrags von Nestlé», einer Minderheitsgruppe, die das Unternehmen mutig zur Verantwortung ziehen wollte, an einer Versammlung am Sitz dieses Multikonzerns in Vevey teil. Wir bekamen Exkurse über die Hochwertigkeit der Produkte vorgesetzt, doch der oberste Chef, der uns empfing, verstand nicht, dass es die Art und Weise ist, wie diese über jeden Zweifel erhabenen Produkte angewendet werden, die Krankheit und Tod verursachen (Nota bene: Was hier für ein Unternehmen gesagt wird, gilt genauso für alle anderen, die in diesem Bereich tätig sind.)

Als jemand, der sich seit Langem für öffentliche Gesundheit einsetzt, darunter sechs Jahre in einkommensschwachen Überseeländern, konnte ich beobachten, wie verheerend der Teufelskreis aus Infektionen und Unterernährung ist, der mit der Verwendung dieser Ersatzprodukte häufig einhergeht.

Ein Produkt, völlig ungeeignet für viele Regionen der Welt

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal diesen unheilvollen Ablauf:

  1. Es geht um Regionen mit ungenügender Wasserversorgung, wo das verfügbare Wasser gefährliche Bakterien enthält;
  2. das Wasser müsste abgekocht werden, um die Ersatzprodukte sicher anwenden zu können, aber Holz oder Kochgas sind rar und teuer; für junge Mütter ist das Prozedere schlicht zu kompliziert, zu teuer und nicht machbar;
  3. die Herstellerangaben zur Konzentration, die für eine ausreichende Nährstoffzufuhr nötig ist, sind in einer Sprache und einer Art und Weise verfasst, dass sie die Betroffenen kaum verstehen; angesichts der schönen weissen Farbe können sie meinen, die Flüssigkeit sollte passen, auch wenn sie ungenügend dosiert ist.

Es ist dieses Zusammenspiel an Faktoren, das ins Unheil führte.

Photo by Oleg Sergeichik on Unsplash
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Dazu kommt, dass Werbung gemacht wurde und diese verschiedentlich im öffentlichen Raum verbreitete Propaganda mit schönen, strahlenden blonden Frauen und ihren Babys samt Fläschchen explizit oder unterschwellig das Bild vermittelten, dass man es durch Verwendung dieser Ersatzprodukte wie dargestellt zu Gesundheit und Wohlstand bringen werde.

Aufgrund dieser tödlichen Verkettung setzten sich WHO und UNICEF entschieden dafür ein, dieser vermeidbaren Morbidität und Mortalität Einhalt zu gebieten. Vermeidbar dann, wenn praktisch und pädagogisch der Akzent darauf gelegt wird, dass Stillen unerlässlich und «rettend» ist; dass die ersten sechs Monate ausschliesslich gestillt werden soll und danach teilweise, so lange es möglich ist.

Die Industrie war nicht begeistert(!), auch manche Regierungen nicht, doch letztlich verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung im Mai 1981 einen Internationalen Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten. Davon erhoffte man sich eine deutliche Verbesserung der katastrophalen Situation. Unter der Ägide der WHO wurden in der Folge zusätzliche Empfehlungen und Richtlinien (rund ein Dutzend in den letzten zwanzig Jahren) ausgearbeitet.


Unethische Vermarkung

Um es kurz zu machen: Vierzig Jahre später kommt der eben veröffentlichte Bericht zum Schluss, dass weltweit eine «aggressive und unethische» Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten stattfindet. Es wird darauf hingewiesen, dass viele Mitarbeitende des Gesundheitswesens von den Unternehmen mit dem Versprechen auf Gratisproben, auf Geschenke und andere Vorteile angesprochen werden, um sie dazu zu bringen, jungen Eltern ihre Produkte zu empfehlen – ein krankhafter Versuch, Familien zu verführen, denen es sehr oft an praktischen wie finanziellen Mitteln für die korrekte Anwendung der Ersatzprodukte fehlt. Diese Aktionen fördern das Absetzen des Stillens, das nicht mehr wiederaufgenommen werden kann, wenn es zu lange unterbrochen wurde. Offenbar investiert die Industrie jährlich zwischen 2,7 und 4,6 Milliarden Franken in diese gross angelegten Aktionen.

Gemäss WHO und UNICEF könnte «der Tod von 800 000 Kindern unter fünf Jahren vermieden werden», wenn die Mütter mehr stillen würden. Das Streben der Industrie nach Gewinnmaximierung hat aus Sicht der Gesundheit von Kindern, Müttern, Familien und der Öffentlichkeit weiterhin katastrophale Folgen.
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Je mehr sich ändert, desto mehr bleibt alles beim Alten? Gemäss WHO und UNICEF könnte «der Tod von 800 000 Kindern unter fünf Jahren vermieden werden», wenn die Mütter mehr stillen würden. Das Streben der Industrie nach Gewinnmaximierung hat aus Sicht der Gesundheit von Kindern, Müttern, Familien und der Öffentlichkeit weiterhin katastrophale Folgen. Traurig.

Referenz
Dr. Jean Martin
Dr. Jean Martin hat nach seinem Studium in Lausanne und Krankenhauspraktikas acht Jahre in Übersee gearbeitet (peruanisches Amazonasgebiet, USA und mit der WHO in Indien und Kamerun). Danach trat er in den öffentlichen Gesundheitsdienst des Kantons Waadt ein, wo er ein Vierteljahrhundert lang als Kantonsarzt tätig war. Ausserdem war Jean Martin Mitglied der Nationalen Ethikkommission. Email