Von Martin Leschhorn Strebel
Das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz hat einen zivilgesellschaftlichen Bericht zur Umsetzung des WHO-Kodexes zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal veröffentlicht. Der Trend ist klar: Schweizer Gesundheitsanbieter:innen foutieren sich immer stärker um Sinn und Geist des Kodexes, stellt MMS-Direktor Martin Leschhorn Strebel fest.
Vor vierzehn Jahren hat die Weltgesundheitsversammlung den WHO-Kodex zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal (WHO-Kodex) verabschiedet. Damit wurde ein Rahmen geschaffen, um das unkontrollierte Abwerben von Gesundheitspersonal zwischen den Ländern zu verhindern – insbesondere zum Schutz auch von schwächeren Gesundheitssystemen.
Der WHO-Kodex anerkannte erstmals, dass es angesichts des weltweiten Mangels an Gesundheitspersonals Regeln braucht, damit sich die Staaten nicht gegenseitig Gesundheitspersonal abwerben. Bei diesem Spiel leiden am Ende immer die Bevölkerungen aus denjenigen Ländern, deren Gesundheitssystem bereits unterfinanziert und schwach ist. Aus diesem Grund haben sich das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz (MMS) und das Netzwerk Medicus Mundi International (MMI) stets für den WHO-Kodex engagiert. Ohne genügend gut ausgebildete Ärzt:innen, Pfleger:innen oder Hebammen kann kein Gesundheitssystem funktionieren und kann Gesundheit für alle nicht erreicht werden.
Vierzehn Jahre später zieht MMS im Rahmen der fünften Berichtserstattungsrunde der Weltgesundheitsorganisation zur Umsetzung des WHO-Kodexes eine durchzogene Bilanz, was den Kodex insgesamt– und eine äusserst Kritische, was die Entwicklungen in der Schweiz anbelangt.
Der WHO-Kodex anerkannte erstmals, dass es angesichts des weltweiten Mangels an Gesundheitspersonals Regeln braucht, damit sich die Staaten nicht gegenseitig Gesundheitspersonal abwerben.
Die Migration von Gesundheitspersonal ist ein komplexes Phänomen. Grundsätzlich gilt, dass jede Person mit einer Ausbildung in einem Gesundheitsberuf das Recht auf legale Migration hat. Die Betonung dieses individuellen Rechts ist bedeutsam, weil es sich hier im Kontext der Migration, um mehr als um das persönliche Recht dreht, das Problem im globalen Spiel um das Gesundheitspersonal sind viel mehr wirkungsmächtige strukturelle Faktoren.
Die Migration von Gesundheitspersonal umfasst verschiedene Formen – nicht nur die transnationale. Dazu zählt ebenso die Pflegerin, die eine Gesundheitsstation im ländlichen Tansania verlässt, um eine Arbeit in einem Spital in der Grossstadt Daressalam aufzunehmen. Dazu zählt die Hebamme, die vom öffentlichen Spital in Dakka in eine Privatklinik in der gleichen Stadt wechselt. Ebenfalls – um auch die Rolle von Hilfswerken aus dem globalen Norden anzusprechen – zählt dazu die Ärztin, die ihre Stelle an einem Distriktspital zugunsten einer Managementaufgabe bei einer internationalen Organisation aufgibt. Aber natürlich zählen eben auch die Ärzt:innen aus Rumänien dazu, die eine Stelle in der Schweiz aufnehmen – oder die elsässischen Pfleger:innen, die als Grenzgänger:innen in den Spitälern und Pflegeheimen des Kantons Basel-Stadt arbeiten.
Das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz (MMS) und das Netzwerk Medicus Mundi International (MMI) haben sich stets für den WHO-Kodex engagiert. Ohne genügend gut ausgebildete Ärzt:innen, Pfleger:innen oder Hebammen kann kein Gesundheitssystem funktionieren und kann Gesundheit für alle nicht erreicht werden.
Die Dynamik hinter all
diesen verschiedenen Formen der Migration wird durch ähnliche Treiber geprägt. Grundlegend
ist der zunehmende Mangel an Gesundheitspersonal: Weltweit wird zu wenig
Personal ausgebildet. Dies mag in Ländern mit tiefem und mittlerem Einkommen
mit fehlenden Ressourcen, aber wohl auch mit falschen Prioritätensetzungen zusammenhängen.
Auch in der Schweiz wird etwa bei den Ärzt:innen der Mangel künstlich mit dem Numerus
Clausus verschärft. Im Pflegebereich benötigte es die Annahme der
Pflegeinitiative, um den Staat in die Pflicht zu nehmen, damit dieser stärker
in die Ausbildung von Pflegefachleuten investiert.
Der solchermassen politisch gewillt oder unfreiwillig gesteuerte globale Mangel an Gesundheitspersonal treibt die Migration erst recht an – insbesondere, weil weitere mächtige Treiber wirken. Im globalen Süden, vor allem im öffentlichen Gesundheitssektor, ein mangelhaftes Arbeitsumfeld. Männer und Frauen mit einer qualifizierten Ausbildung im Gesundheitswesen, benötigen Arbeitsbedingungen, in welchen sie ihre Kompetenzen anwenden können. Wer keine ausreichenden Diagnoseinstrumente zur Verfügung hat, mangelhafter Zugang zu Strom und/oder Wasser oder wer nicht auf lebensrettende Medikamente zurückgreifen kann, wird sich nach einer anderen Arbeit umsehen.
Zur Qualität des Arbeitsumfeldes gehören auch Bedingungen wie Arbeitszeiten, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit oder nicht zuletzt auch die Entlöhnung. Während diese Faktoren Personal aus den Gesundheitsberufen vertreiben, ist das hohe Lohnniveau in der Schweiz grundsätzlich für ausländisches Gesundheitspersonal attraktiv und trägt dazu bei, dass Schweizer Gesundheitseinrichtungen im Ausland überhaupt Personal finden.
Die verschiedenen Treiber der Migration führen dazu, dass Länder mit finanzstarken Gesundheitssystemen vom globalen Mangel weniger stark betroffen sind als solche mit schwachen Gesundheitssystemen, wo in der Folge die Versorgung der Bevölkerung zusätzlich durch die Abwanderung geschwächt wird.
Die Schweiz konnte lange davon profitieren, dass sie mit einem qualitativ vergleichbar guten, finanziell starkem Gesundheitssystem Personal aus dem Ausland anziehen konnte. Dabei musste sie in der Regel nicht aktiv im Ausland rekrutieren, hat sich das entsprechende Personal doch direkt selbst beworben.
MMS geht in seinem jüngsten Bericht zur Umsetzung des WHO-Kodexes zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal in der Schweiz davon aus, dass sich diese Situation verändert hat. Es stellt eine verstärkte direkte, das heisst aktive Rekrutierung im Ausland durch Schweizer Gesundheitseinrichtungen fest. So hat beispielsweise das Kantonsspital Baselland einen Versuch mit der Rekrutierung in den Philippinen begonnen (SRF, 28.12. 2023). Laut Medienberichten führen verschiedene, wiederum auch öffentliche Spitäler, mittels Castings etwa in Rom und in Berlin eine aktive Rekrutierung im Ausland durch (SonntagsBlick, 30. April 2023).
Diese verstärkte aktive Rekrutierungspraxis Schweizer Gesundheitsanbieter:innen weist darauf hin, dass sich die Mangelsituation verschärft hat. So stellt MMS im Bericht fest: «Die Zahl der ausgeschriebenen Stellen im Pflegebereich, 2021 im Jahresdurchschnitt 9'282, 2022 12'312 und 2023 13'765 betragen (Obsan Pflegemonitoring, 6.8.2024). Das entspricht einer Zunahme der offenen Stellen innerhalb von drei Jahren um rund 48% - ein klares Zeichen eines sich zuspitzenden Personalmangels im Pflegebereich.»
MMS geht in seinem jüngsten Bericht zur Umsetzung des WHO-Kodexes zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal in der Schweiz davon aus, dass sich diese Situation verändert hat. Es stellt eine verstärkte direkte, das heisst aktive Rekrutierung im Ausland durch Schweizer Gesundheitseinrichtungen fest.
Aber auch bei den Ärzt:innen hat sich die Situation zugespitzt. Laut Sonntagszeitung rekrutieren Schweizer Gesundheitseinrichtungen nicht mehr nur direkt im benachbarten Ausland. Unterdessen ist etwa Rumänien nach Deutschland, Frankreich und Italien das viert bedeutendste Herkunftsland von Ärzt:innen in der Schweiz (Sonntagszeitung, 12. Februar 2023).
Vierzehn Jahre nach Verabschiedung des WHO-Kodexes droht sich die Schweiz weiter denn je von dessen Umsetzung zu entfernen. Sie hat die Abhängigkeit von im Ausland ausgebildeten Gesundheitspersonal nicht reduziert – und schwächt damit grundlegend die Nachhaltigkeit und auch Krisenresistenz ihres Gesundheitssystems. Damit steht sie in Widerspruch zu Artikel 3.6 und 5.4 des Kodexes. Beide Artikel zielen auf eine langfristige, bedürfnisorientierte Planung und Ausbildung von Gesundheitspersonal. Gesundheitspersonal, das auch dem Gesundheitssystem erhalten bleibt (sog. Retention).
Oder anders: Die Schweiz bildet zu wenig Gesundheitspersonal gemäss ihrem Bedarf aus und hat zu viele Berufsaussteiger:innen. Bei den Ärzt:innen ist nicht nur der Numerus Clausus ein Hindernis, sondern auch, dass zu wenig getan wird, um im Bereich der Basisgesundheitsversorgung genügend Hausärzt:innen auszubilden (vgl. NZZ, 14.06.2024).
Laut Medienberichten führen verschiedene, wiederum auch öffentliche Spitäler, mittels Castings etwa in Rom und in Berlin eine aktive Rekrutierung im Ausland durch.
Diese Politik kann nur funktionieren, so lange nicht eine erneute Gesundheitskrise auf die Schweiz zukommt – und solange der Zustrom aus dem Ausland sichergestellt ist. Gerade letzteres wird aber schwieriger, weil auch die Nachbarsstaaten mit besseren Arbeitsbedingungen ihr Personal möglichst zu halten oder gar wieder zurückzugewinnen versuchen. Weil gleichzeitig der inländische Bedarf steigt, droht die passive Rekrutierung durch Schweizer Gesundheitseinrichtungen je länger, je weniger zu funktionieren. Das ist der Hintergrund, weshalb die aktive Rekrutierung im Ausland durch Schweizer Gesundheitseinrichtungen zunimmt. Damit aber verstösst die Schweiz gegen Sinn und Geist des WHO-Kodexes.
Die beschriebene Verschärfung der Situation im Gesundheitssystem betrifft nicht nur die Schweiz – sie ist weltweit festzustellen. Im Zuge der 5. Berichterstattungsrunde zur Umsetzung des WHO-Kodexes, in deren Rahmen MMS als zivilgesellschaftliche Vertretung ihren Bericht erarbeitet hat, wird eine Kommission Vorschläge zuhanden des WHO-Sekretariates ausarbeiten. Die Weltgesundheitsversammlung im Mai 2025 wird anschliessend über den Bericht befinden.
Um den Anreiz zu erhöhen, bedarfsgerecht eigenes Personal auszubilden und nicht mehr aktiv in anderen Ländern zu rekrutieren, muss auch über ein Entschädigungssystem nachgedacht werden. Zielländer sollten für Ausbildungskosten der Herkunftsländer aufkommen.
Für MMS ist klar – der WHO-Kodex muss verbindlicher werden. Das Gesundheitspersonal muss als zentraler Teil der Gesundheitsversorgung eines jeden Landes gestärkt werden. Um den Anreiz zu erhöhen, bedarfsgerecht eigenes Personal auszubilden und nicht mehr aktiv in anderen Ländern zu rekrutieren, muss auch über ein Entschädigungssystem nachgedacht werden. Zielländer sollten für Ausbildungskosten der Herkunftsländer aufkommen.
Mit der Umsetzung der
Pflegeinitiative kann die Schweiz zeigen, dass sie gewillt ist,
verstärkt in eine qualitativ gute Ausbildung und in ein gutes
Arbeitsumfeld zu investieren. Richtigerweise sollte sie dies aber nicht
nur für die Pflege, sondern auch für andere Gesundheitsberufe umsetzen.
Auf jeden Fall wäre die Schweiz mit der demokratischen Legitimation
durch die Annahme der Pflegeinitiative positioniert, um sich auch
international für eine Stärkung des WHO-Kodexes zu engagieren.
MMS hat im August 2024 den Fortschrittsbericht zur Umsetzung des WHO-Kodexes zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal im Rahmen der 5. Berichtsrunde verfasst. Das «Independent Stakeholder Reporting 2024» leistet einen Beitrag dazu, dass die Staatengemeinschaft über die Entwicklungen des WHO-Kodexes informiert bleibt.
Der Mangel an Gesundheitsfachpersonen spitzt sich zu – in der Schweiz und weltweit
Medicus Mundi Schweiz und Schweizerischer Berufsverband der Pflegefachfrauen & Pflegefachmänner (SBK) haben im Mai 2024 einen dringenden Aufruf zum Personalmangel und zur Schweizer Rekrutierungspraxis veröffentlicht. Dieser wurde von 29 Organisationen aus dem Schweiz Gesundheitssystem und der internationalen Gesundheitszusammenarbeit unterzeichnet.