Von Marcel Tanner
Die SARS-CoV-2-Pandemie führte weltweit zu schwerwiegenden Kollateralschäden in vielen Gesundheits- und Sozialsystemen; insbesondere Afrikas. Gleichzeitig offenbart die Krise auch grosses Innovationspotenzial bei der Forschung und Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe.
Nach Karl Marx ereignen sich weltgeschichtliche Ereignisse immer zweimal. Einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce. («18. Brumaire des Louis Napoleon»). Die globale SARS-CoV-2-Pandemie ist keine Farce. Sie ist ein Drama und eine grosse Herausforderung für einzelne Menschen sowie für nationale und globale Gemeinschaften.
Rückblickend erscheint die Pandemie wie ein Echo vergangener und nicht weniger dramatischer Ereignisse. Zwischen 2014 und 2016 zog eine verheerende Ebola-Epidemie durch Westafrika. Man priorisierte, konzentrierte sich auf die Eindämmung des Virus. Die Gesundheitsversorgung gerade in abgelegenen Gebieten wurden heruntergefahren. Beispielsweise blieben komplizierte Schwangerschaften unbehandelt. Zudem gehen Schätzungen davon aus, dass während der Ebola-Epidemie 500'000 Menschen zusätzlich an Malaria und Lungenentzündungen starben als im Durchschnitt. Das nennt man euphemistisch «Kollateralschäden».
Nachdem die Epidemie abflachte und die eigentlichen 11'000 Ebola-Toten beerdigt waren, eilten die globalen Gesundheitsexpertinnen und -experten in Weiterbildungsseminare. Diese hiessen oft «Ebola – the lessons learned» oder ähnlich. Das nennt man dann wohl Trostpflaster auf die kollektive Amnesie.
Und dann kam SARS-CoV-2. Die ganze Welt konzentrierte sich auf ein besseres Verständnis und die Eindämmung des neuen Coronavirus. Die Schweiz schloss zeitweise Schulen, Restaurants, Läden und die Grenzen. Die Massnahmen führten zu Bildungsrückständen bei Kindern vor allem aus unterprivilegierten Schichten, zu einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Kollateralschäden in der Schweiz. Kollateralschäden in Afrika.
So hat beispielsweise der Lockdown in Südafrika den Taglöhnern in den südafrikanischen Townships die Existenzgrundlage genommen. Die Folge davon sind Hunger, häusliche Gewalt und weiteres Abgleiten in die Armut. Auch die Kluft zwischen privilegierten und weniger privilegierten Ländern bei der Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie könnte nicht grösser sein. Ich spreche also nicht nur von der ungleichen Verteilung von Impfstoffen. In vielen Ländern in Afrika fehlt es an Sauerstoffgeräten, Schutzkleidung, diagnostischen Tests.
Die globale SARS-CoV-2-Pandemie ist keine Farce. Sie ist ein Drama und eine grosse Herausforderung für einzelne Menschen sowie für nationale und globale Gemeinschaften.
Die Pandemie überlastet bereits fragile Gesundheitssysteme: Deutlich sind die negativen Auswirkungen in der Malaria-, Aids- oder Tuberkulosebekämpfung zu spüren. In Gesundheitsprogrammen also, die eine enge Zusammenarbeit mit den Behörden und der lokalen Bevölkerung erfordern. Versammlungs- und Reisebeschränkungen und Ausgangssperren mögen wichtig und richtig im Kampf gegen SARS-CoV-2 sein. Aber die jetzt beobachtete Zunahme der Malaria-Übertragung in vielen afrikanischen Ländern steht in engem Zusammenhang mit der Pandemie. Die Erfolge der letzten zwei Jahrzehnte in der Malariabekämpfung sind gefährdet.
Die indirekten Auswirkungen von SARS-CoV-2 sind beträchtlich; nicht nur für das Gesundheitswesen, sondern auch in sozialer und ökonomischer Hinsicht. Die Krise hat das Vertrauen zwischen den Menschen, Institutionen und der politischen Führung zerrüttet. Wenn die Schweiz ihre Rolle und Verantwortung für das Recht auf Gesundheit weltweit geltend machen möchte, dann braucht es auch auf globaler Ebene einen systemischen Ansatz, eine Perspektive, die das Gesundheits- und Sozialsystem mit den wirtschaftlichen Dimensionen verbindet. Nur so kann man negative Auswirkungen von COVID-19 in den Bereichen der Bildung, psychischen Gesundheit und Wirtschaft in Afrika und weltweit gerecht werden.
Über all den etwas tristen Zeilen darf man nicht verschweigen, dass die SARS-CoV-2-Pandemie zu einem grossen Innovationsschub gerade in der Behandlung oder der Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe geführt hat. In zahlreichen klinischen Studien wurde untersucht, ob bereits zugelassene Medikamente auch gegen die Übertragung des Coronavirus oder zur Behandlung der Covid-19-Erkrankung wirken.
Der «Solidarity clinical trial for COVID-19 treatments» der Weltgesundheitsorganisation erforschte die Wirkung von Redemsivir (ursprünglich gegen Ebola) oder Hydroxychloroquin (ursprünglich gegen Malaria/Arthritis) auf den Verlauf einer schweren Corona-Erkrankung. Andere Forschungsvorhaben liefern Evidenz zur Wirksamkeit einer monoklonalen Antikörper-Therapie oder zur Frage, welche Antikoagulations-Dosis für Covid-19-Patieten am geeignetsten ist. Diesen Schwung in der Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente gilt es auch in Zukunft zu erhalten.
Wenn die Schweiz ihre Rolle und Verantwortung für das Recht auf Gesundheit weltweit geltend machen möchte, dann braucht es auch auf globaler Ebene einen systemischen Ansatz, eine Perspektive, die das Gesundheits- und Sozialsystem mit den wirtschaftlichen Dimensionen verbindet.
SARS-CoV-2 wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Ob wir nun die Lektionen daraus gelernt haben? Allen positiven und ermutigenden Anzeichen zum Trotz: Wir müssen unser Wissen und unsere Erfahrung in Zukunft noch konsequenter mit einem systemischen Ansatz und mit einer globalen, verteilungsgerechten Sicht umsetzen!